Z w e i t e r A b s c h n i t t
Das Wesen der Herrschaft nach individualistischer und
universalistischer Auffassung. Die Verwirklichung der
Gesellschaft durch Herrschaft
Die Frage, warum die vielen voneinander abgeschlossenen Ge-
zweiungen nicht ein wirres feindliches Durcheinander, sondern eine
geordnete Gesellschaft bilden, ist mit der vorstehenden Betrachtung
noch immer nicht vollständig beantwortet. Denn von den unzu-
länglichen Durchvergemeinschaftungen abgesehen, sahen wir zwar,
daß zwei Grundzüge der Ordnung am Werke sind: jene natürliche
Gliederung der Gezweiungskreise, welche durch das gliedhafte Auf-
einander-Hingeordnetsein ihrer geistigen Inhalte begründet wird
und die Gezweiung zum geistigen „Stand“ macht; und sodann die
Schichtung nach Werten. Aber weder die ständische Gliederung noch
die Wertgliederung können zuletzt anders zur Wirklichkeit wer-
den, denn durch H e r r s c h a f t . Die Herrschaft hat sicherzustel-
len, daß das besonderte Glied nicht, seine Grenzen im Ganzen über-
schreitend, überwuchere, und daß die niederen Werte sich nicht
über die höheren Werte erheben.
I.
Das Wesen der Herrschaft nach individualistischer
und universalistischer Auffassung
Vom individualistischen Standpunkte aus ist Herrschaft dasjenige,
was das moderne Denken dabei vornehmlich sich vorstellt: mecha-
nische Gewaltanwendung, mechanisches Gebieten, Unterwerfen,
Knechten. Durch Gewalt unterwirft sich eine überragende Macht
diejenigen, die sie beherrscht. Da der Individualismus die Gesell-
schaft aus lauter unendlich verschiedenen, einmaligen Individuen
erklärt, die einander im Grunde nichts angehen (außer daß sie
äußerlich Ordnung halten), ist ihm ein anderer Begriff des Herr-
19 Spann, 4