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logische Bedingungen, z. B. Sippe, Nachbarschaft usw., zur V o r a u s s e t z u n g haben.

Aber solche Voraussetzungen sind selbst noch nicht die Gezweiung, welche stets rein geistig

ist.

Eine ausgesprochen naturwissenschaftliche Geschichtstheorie stellt

auch der bekannte h i s t o r i s c h e M a t e r i a l i s m u s v o n K a r l

M a r x dar.

Marxens

Lehre

mit

ihrer

mechanisch-ursächlichen

Verknüpfung

der

Gesellschaftselemente, unter denen ihm die W i r t s c h a f t das Primäre ist, stellt einer- /

seits eine Gesellschaftslehre dar, andrerseits auch eine Geschichtsphilosophie, indem aus

demselben M e c h a n i s m u s (durch angeblich mechanische Änderung der Wirtschaft, vor

allem durch das „Konzentrationsgesetz“) dennoch eine s i n n v o l l e E n t w i c k l u n g

sich ergeben soll (!), nämlich zum Kommunismus. Eine methodisch wie inhaltlich primitivere

Theorie als diese, eine menschlich ärmlichere als sie hat wohl nie Eindruck auf ein Zeitalter

gemacht. Methodisch: indem ein bloß mechanisch-kausaler Ablauf nicht Sinn und Richtung

haben kann; inhaltlich: indem das Konzentrationsgesetz, als durchgängiges gefaßt, ein

handgreiflicher Irrtum, eine allerhohlste Konstruktion ist; menschlich endlich: wer den Geist

abdanken läßt und das Materiell-Wirtschaftliche auf den Thron erhebt, wer von geistigen

Mächten des Lebens und der Geschichte nichts mehr weiß, ist tief gesunken

1

.

Dem wirtschaftlichen Geschichtsmaterialismus Marxens und zugleich der

Verfahrenlehre Auguste Comtes steht nahe: F r a n z O p p e n h e i m e r : System der

Soziologie, Jena 1923 ff. Oppenheimer lehnt die Entstehung der Klassen aus wirtschaftlichen

Ursachen ab und vertritt (wie vor ihm L u d w i g G u m p l o w i c z) die Ansicht, daß die

Klassenbildung aus kriegerischer Unterwerfung abzuleiten sei. Der Charakter des

Klassenstaates besteht nach Oppenheimer bis heute fort und wird erst in der Zukunft der von

ihm sogenannten „Freibürgerschaft“ weichen, wenn die Aufteilung des Großgrundbesitzes

durchgeführt und damit das Bodenmonopol beseitigt sein wird — eine mit der Marxischen

Lehre vom „Absterben des Staates“ verwandte, dem tiefsten Wesen des Staates

widersprechende Ansicht.

Von neueren naturalistischen Verfassern geschichtlicher Richtung ist

Max W e b e r zu nennen.

Seine wichtigsten Arbeiten sind jetzt in „Wirtschaft und Gesellschaft“

2

und in den

„Religionssoziologischen Aufsätzen“

3

zusammengefaßt. Seine geistvollen Forschungen

häufen zum Teil sehr viel Stoff an, mußten aber scheitern, da er einerseits im geschichtlichen

Materialismus Marxens verstrickt blieb (trotz aller Kritik daran), andrerseits in der

Gesellschaft ein System k a u s a l e r Beziehungen sah, wie insbesonders der von ihm überall

angewandte Begriff der

1

Eine ausführliche Kritik des historischen Materialismus siehe in meinem Buch: Der

wahre Staat, 2. Aufl., Jena 1923 [3. Aufl., Jena 1931, 4. Aufl., Jena 1938]. Vergleiche noch

unten S. 181 f.

2

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 2 Halbbände, 2. vermehrte Aufl., Tübingen

1925 (= Grundriß der Sozialökonomie, Abteilung 3).

3

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1921 ff.