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los sei. Liegt doch im bloßen „Ablaufe“ erstens, daß er mechanisch,
das ist, daß er in sich selbst nicht sinnvoll, sondern sinnlos und nur
von äußerer Notwendigkeit bestimmt sei — was aber in sich selbst
nicht sinnvoll ist, hat auch keine Geschichte; zweitens, daß im Grunde
etwas anderes als er (der Ablauf) selbst für die wesentliche, für die
eigentliche Wirklichkeit gehalten werde, nämlich die Atome (Empi-
rismus) oder die Naturgesetze (Rationalismus), welche sich im Ge-
schehen zwar auswirken, aber ihre Wirklichkeit, die in sich selbst un-
veränderlich, daher geschichtslos ist, lediglich in sich selbst tragen.
Wir betrachten zunächst den Empirismus oder Naturalismus, des-
sen Begriff wir soweit fassen, daß er auch den Positivismus, Relati-
vismus, Sensualismus und Materialismus, wie in der Folge den ge-
sellschaftlichen Individualismus in sich schließt. Vom Empirismus ist
leicht einzusehen, daß er die beiden genannten Bedingungen, das Ge-
schehen als mechanisch, also sinnlos, und als bloße Auswirkungen
eines Zugrundeliegenden aufzufassen, in allen seinen Formen er-
füllt.
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Der Empirismus drängt zuletzt überall zum Atomismus. Im Be-
griffe des Atoms liegt, daß es eine in sich selbst und aus sich selbst
bestehende Wirklichkeit ist. Der Atomismus hat es daher an sich,
daß eine für sich selbst und aus sich selbst bestehende Wirklichkeit
durch Z u s a m m e n t r e f f e n m i t a n d e r e n W i r k l i c h -
k e i t e n (mit anderen Atomen) die jeweiligen „Dinge“ und „Er-
scheinungen“ dieser Welt bildet. Das Zusammenstoßen zweier Bil-
lardkugeln ist keine Geschichte der einzelnen Billardkugeln. Aber
auch das Geschehen im „Komplexe“ des Zusammenstoßes als solchem
ist keine Geschichte, sondern nur Ablauf, denn es kann mathema-
tisch berechnet werden. Das führt zuletzt zum Erkenntnisideal der
Laplacischen Weltformel: Die Anfangswerte einmal eingesetzt, ist
das gesamte Geschehen nach vor- und rückwärts rechenbar. Das
Zusammentreffen der Atome bedeutet also nur, daß sich „Wirkun-
gen“, das heißt, daß sich Beziehungen der Atome zueinander bilden.
Das Atom ist die wahre Wirklichkeit, die „Beziehung“ ist nur die
abgeleitete und wechselnde Wirklichkeit, sie ist keine Geschichte des
Atoms.
Wie der naturwissenschaftliche so auch der gesellschaftswissen-
schaftliche Atomismus, das ist der I n d i v i d u a l i s m u s . Denn