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erst jüngst eine „geistesgeschichtliche Richtung“ (Kluckholm, Cysarz und andere)
die alte induktive, naturwissenschaftliche Richtung (Scherer, Minor, Walzel und
andere) ablöste, die nach „Parallelen“ suchte, alles aus umweltlichen Gründen er-
klären wollte und mit Wortstatistiken usw. arbeitete.
Aber auch sofern auf dem engeren Gebiet der Geschichte selbst die Hilfs-
wissenschaften allzusehr die Führung erlangten, indem reine Quellendarstellung,
Quellenkritik, philologische Kritik, Einzelforschung ohne entsprechende Synthese
vorherrschte; sofern weiter zugleich die Erklärung aus der Umwelt, die Erklä-
rung aus der materialistisch verstandenen Wirtschaft (abgeschwächter Marxismus!)
und aus anderen naturalistischen Elementen weit über Gebühr in den Vorder-
grund traten; sofern endlich Psychologismus und mechanischer Evolutionismus
darwinistischer Art in die Geschichtsschreibung eingedrungen waren (vgl.
B ü c h e r s Stufenlehre, L a m p r e c h t , v o n B u c k l e u n d T a i n e ganz zu
schweigen) — sofern dies alles in die Geschichtsschreibung eindrang, wurden auch
in ihr n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e V e r f a h r e n mächtig. Heute ist in-
dessen auch hier die rein geisteswissenschaftliche Einstellung im entschiedensten
Vordringen begriffen
1
.
b. Die Einmaligkeit des geschichtlichen Geschehens
Seit Windelbands Straßburger Rektoratsrede „Geschichte und
Naturwissenschaft“
2
wird im modernen Schrifttume das Merkmal
der Ein- / maligkeit, Einzigkeit und Unwiederholbarkeit als das
Maßgebende für die Geschichtlichkeit eines Vorganges betont
3
. Win-
andere. Vgl. ferner, auch für die folgenden Abschnitte, die reichen Schriftanga-
ben bei Franz Sawicki: Geschichtsphilosophie (1920), 3. Aufl., Kempten 1923
(= Philosophische Handbibliothek, Bd 2).
1
Weiteres über den geschichtlichen Positivismus siehe unten S. 223 f.
2
1894, jetzt abgedruckt in: Wilhelm Windelband: Präludien. Sammlung von
Aufsätzen und Reden zur Einleitung in die Philosophie (1883), 7. und 8. Aufl.,
Tübingen 1921. — Auf die Weiterbildung durch Heinrich Rickert: Die Gren-
zen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1902), 4. Aufl., Tübingen 1921,
gehe ich hier nicht ein. Ebensowenig gehe ich auf die Vorgänger ein, die Win-
delband in
Kant
(„Die Natur ist das Allgemeine“) und
Schopenhauer
(Natur =
das Allgemeine, Geschichte = das Individuelle) hatte, sowie in Lotze, Menger,
Dilthey, Sigwart; noch darauf, wieweit die logische Unterscheidung des Indi-
viduellen vom Allgemeinen besonders auch in
Hegel
wurzelt. — Aus dem
weiteren großen Schrifttum nenne ich noch: Karl Groos: Naturgesetze und
historische Gesetze, Tübingen 1926; Theodor L. Haering d. J.: Uber Indivi-
dualität in Natur und Geisteswelt, Leipzig 1926.
3
„Immer aber ist der Erkenntniszweck [der Geschichte] der, daß ein Gebilde des
Menschenlebens [z. B. Sprache, Recht, Religion], welches in einmaliger Wirk-