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was Geschichte ist, zeigen uns die redenden Künste. Ein Roman, ein
Schauspiel könnte auch anders verlaufen, wenn der Held anders ge-
handelt hätte. Dieses Anders-Können ist Bedingung aller Geschichte.
Mit anderen Worten: In der Geschichte muß Freiheit wohnen, „Frei-
heit“ für die Gestaltung des Geschehens in irgendeinem Sinne
1
. /
„Freiheit“ ist aber nur im Geistigen zu finden, nicht im Stofflichen
(wenigstens nach der überkommenen naturwissenschaftlichen Auffas-
sung der Stofflichkeit, die wir hier der Einfachheit halber hinneh-
men, ohne uns allerdings mit ihr zu vereinerleien).
Daraus folgt: Nur der Geist hat eine Geschichte, weil nur der
Geist oder was ihm angehört, als sinnvoll und zugleich frei zu den-
ken ist. Soll Natur eine Geschichte haben, so muß auch sie nach Art
des Geistes gedacht werden.
Z u s a t z
ü b e r
n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e
G e s c h i c h t s w i s -
s e n s c h a f t . In der Zeit der Hochflut des Materialismus und Empirismus ver-
suchte man auch naturwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung. Namen wie Buckle,
Taine (Umweltlehre), Marx (geschichtlicher Materialismus), Darwin (mechanische
Entwicklung, mechanische Geschichte der Artenbildung) bezeichnen die Höhe-
punkte dieses Bestrebens. Gerade an ihnen tritt das Widerspruchsvolle einer na-
turwissenschaftlichen Geschichtswissenschaft deutlich zutage. Ginge es nach ihnen,
so könnte man ihr „Geschichtsgesetz“ in die obenerwähnte „Laplacische Welt-
formel“ einfügen und, die Anfangswerte einmal gegeben, einfach w e i t er-
r e c h n e n ! Die künftigen Ereignisse ließen sich dann wie die Mondesfinster-
nisse vorausberechnen: „Voir pour prévoir“, wie Comte sagte. -— Hierbei wurde
nur vergessen, daß N a t u r a b l a u f k e i n e G e s c h i c h t e i s t .
Diese Ablehnung klingt selbstverständlich. Daß aber auch die übrige Ge-
schichtsschreibung und daß insbesondere die Geisteswissenschaften (Gesellschafts-
wissenschaften) jenen Bestrebungen in hohem Grade zum Opfer fielen, sollte
nicht vergessen werden. Ich verweise nur auf die dem Positivismus allzusehr ver-
fallene jüngere geschichtliche Schule in der Volkswirtschaftslehre (Schmoller)
2
; so-
wie auf die Schulen von Bastian (Elementargedanke und Völkergedanke) und
Ratzel (Entlehnung, Anthropogeographie), welche die Völkerkunde zur Natur-
wissenschaft machen wollten. Trotzdem Ratzel bereits geschichtliche Gesichts-
punkte geltend machte, verstand er diese doch wieder naturwissenschaftlich. Erst
mit der „Kulturkreislehre“ ist bekanntlich in der Völkerkunde echt geschicht-
licher Geist eingezogen
3
. — Endlich verweise ich auf die Literaturgeschichte, wo
1
Uber das Wesen dieser Freiheit später. Siehe unten S. 216 und 220.
2
Ihre erste Kritik liefert Georg von Below in einer Aufsatzreihe, welche in der
Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Berlin 1904 f. unter dem Namen „Zur Würdi-
gung der historischen Schule der Nationalökonomie“ erschien.
3
Vgl. hiezu mein Buch: Gesellschaftslehre (1914), 2. Aufl., Leipzig 1923, S. 17 f.
[4. Aufl., Graz 1969, S. 30 ff.] und Friedrich Gräbner: Methode der Ethnolo-
gie, Heidelberg 1911, auch Leo Valerius Frobenius, Paul Wilhelm Schmidt und