[144/145]
205
wie mit dem stofflichen, so verhält es sich auch mit dem gesellschaft-
lichen Atom, dem Einzelmenschen. Der Einzelmensch kann nach die-
ser individualistischen Auffassung wohl in sich eine Geschichte ha-
ben, aber die „ B e z i e h u n g e n “ a l s s o l c h e h a b e n k e i n e
G e s c h i c h t e . Sie haben unter sich selbst keinen eigenen, daher
auch keinen stetigen, lückenlosen Zusammenhang. Jene Wirklichkeit,
die in sich selbst Zusammenhang und Stetigkeit allein haben kann,
ist nach dieser Auffassung der einzelne Mensch, das gesellschaftliche
Atom.
Das Entsprechende zeigt sich in logischer Hinsicht. Die Bezie-
hungen der Naturatome wie der Menschen sind auf empiristischem
und individualistischem Standpunkte allein Gegenstand der Beob-
achtung und der Begriffsbildung. Die „Träger“ dieser Beziehungen
stehen als Atome jeweils mehr oder weniger unbestimmbar und in
sich beruhend hinter ihnen.
Indem die Atome in wechselnde Beziehungen untereinander tre-
ten, entsteht innerhalb dieser Beziehungen das Weltgeschehen, wäh-
rend die letzten Wirklichkeiten, die sich aufeinander beziehenden
Atome, immer dieselben bleiben. Bedenkt man, daß es der Erkennt-
nis auf die „Beziehungen“ (auf die „Abläufe“) ankommt, während
die Atome nur etwas Konstruiertes sind, so versteht man, wie die-
ses Denken zu einem neuen Schritte hindrängt: Der D i n g -
b e g r i f f w i r d a u f g e l ö s t , d e r B e z i e h u n g s b e g r i f f
t r i t t a n s e i n e S t e l l e . Der Beziehungs- oder „Relations-
begriff“ oder „Funktionsbegriff“ — das Wort „Funktion“ dabei im
mathematischen, nicht im teleologischen Sinne verstanden — tritt
gegen den Ding- oder „Substanzbegriff auf
1
.
Je mehr in dieser Weltbetrachtung der Gesellschaftsbegriff, der
das „Allgemeine der Beziehungen“ erfassen soll, im Mittelpunkte
steht, um so mehr wird sie zum Rationalismus; je mehr in ihr das
Wechselnde der Erscheinungen betont wird, um so mehr wird sie
zum Relativismus; je mehr in ihr das nur / Scheinbare und Abgelei-
tete der Beziehungs-Geschehnisse betont wird — da die Atome
allein wirklich sind, nur ihre Lagen und Verhältnisse wechseln —
um so mehr wird sie zum Akosmismus (der die Welt außer den
Atomen leugnet), Phänomenalismus, Materialismus.
1
Vgl. dazu unten Teil B., S. 213 f. und 226 ff.