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beträgt, weiß, daß sie niemals zur Unwahrheit werden kann. Wohl
können andere Wahrheiten dazu entdeckt werden, die vorher un-
bekannt waren, z. B. die Lehre vom sphärischen Dreieck; aber was
jetzt wahr ist, bleibt es auch in Hinkunft und wird dadurch nicht
unwahr, daß in Zukunft neue Wahrheiten hinzukommen. Auch
was schön ist, ist und bleibt schön, was sittlich und recht ist, bleibt
sittlich und recht. Daß unsere Zeit gar den Begriff des „Modernen“,
das wechselt, ernster nimmt, als den des Schönen, das bleibt, zeigt
abermals, welche Verderbnis von dem Unbegriffe des Fortschrittes
ausgeht. — Auf ein anderes Gebrechen des Fortschrittsgedankens,
das Hohe aus dem Niederen zu erklären, kommen wir später zu
sprechen.
Schließlich drängt der Begriff des Fortschrittes auch zur indivi-
dualistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung, da ja sein
„Automatismus“ zuletzt auf der Wirksamkeit der einzelnen Wirt-
schafts- und Gesellschaftsatome beruhen muß, besonders darauf, daß
die einzelnen Wirtschaftsatome auf dem Markte aufeinander prallen
und der einzelne Mensch als Wirtschafter im freien Wettbewerbe
sich betätigt. Nur durch den Anruf der individuellen Kräfte konnte
ja die Zertrümmerung der den Liberalen verhaßten gebundenen
Wirtschaft erreicht werden. Ebenso knüpfte der Fortschrittsgedanke
im Staatsleben an den Einzelnen an, der im Urvertrage und seiner
Wiederholung, / der Abstimmung durch freie Wahl, seinen Willen
kundgibt. Ein Fortschritt von dem Ganzen an sich her ist grundsätz-
lich nicht denkbar, da alle Bewegung und Veränderung von den
Einzelnen ausgehen muß.
Würde man einwenden, es gäbe doch unleugbaren „Fortschritt",
z. B. der Technik, so wäre darauf zu antworten, daß es sich da um
einen durchaus äußerlichen Bereich des Lebens handle (der übrigens
zur jeweiligen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung in engem
E n t s p r e c h u n g s v e r h ä l t n i s s e steht, also nicht endlosen
Fortschritt darstellt). In den inneren Bereichen des Lebens kann es
„Fortschritt“ nicht geben. Hier besteht die Aufgabe darin, das
Höchste, das die Größten schon von jeher leisteten, immer wieder
anzustreben. Was ein Platon, ein Meister Eckehart erreichten, ist des
Zieles genug, sich ihm nur zu nähern, ist den meisten schon uner-