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lich die gegenständliche, durch die Sinnesorgane vermittelte und

die eigene leibliche der inneren Triebe, insbesondere der Sinne der

Geschlechtlichkeit. Die geschlechtliche Zeugung, hoch oder niedrig

eingeschätzt, ist ein Urmächtiges. Denn sie knüpft jedes Wesen an

alle anderen vor und nach ihm an.

Die Selbstliebe Gottes in der Welt ist keine Überschwänglichkeit

der Mystiker, sondern nüchternste, unentbehrlichste und grund-

sätzlichste Wahrheit. Die Liebe, in der Gott sich selbst liebt, treibt

und hält alle Geschöpfe. Darum sagt Meister Eckehart: Und würde

ein Mensch noch so sehr dürsten, er tränke keinen Becher Wassers,

wäre nicht ein Tropfen Gottes darin!

Die Philosophie der Upanischaden lehrt in anderen Formen einen ähnlichen

Gedanken, den die gesamte deutsche Mystik des Mittelalters — nicht nur Mei-

ster Eckehart und seine Schule, auch jene Richtung der Scholastik, die durch

Bonaventura verkörpert ist — lehrt. Hierher gehört zuerst die indische Lehre

von der S e l b s t o p f e r u n g G o t t e s in der Welt (die übrigens auch in der

Sage vom geopferten Auge Wotans vorhanden ist). Im Rigveda heißt es:

„Der, opfernd, sich in alle diese Wesen

Als weiser Opfrer senkte, unser Vater,

Der ging, nach Gütern durch Gebet verlangend,

Ursprungverhüllend in die niedre Welt ein.“

1

Gottes Schöpfung wird als ein Opfer seiner selbst betrachtet, und die ihn

verehrenden Menschen erkennen im Opfer ihrerseits, „daß, wenn wir Gott op-

fern, es eigentlich Gott selbst ist, der sich dabei im Opfer darbringt.“

2

Ebenso

die christliche Mystik. Silesius sagt:

„Gott opfert sich ihm selbst: Ich bin in jedem Nu

Sein Tempel, sein Altar, sein Betstuhl, so ich ruh’.“

3

„Ich sterb’ und leb’ auch nicht: Gott selber stirbt in mir

Und was ich leben soll, lebt er auch für und für.“

4

/

Daß die Selbstopferung und Selbstbeschauung eng verwandt und im Grunde

das gleiche ist, leuchtet ein. Daraus folgt aber die ungeheure Größe, die un-

ergründliche Fülle der Geschichte. Sie ist nicht nur die Geschichte der Mensch-

heit nach menschlichen Maßstäben, und nicht nur der Welt, sofern der Mensch

ihre sichtbare Spitze ist; vielmehr Gottes in der Welt, sofern Gott im Geistes-

grunde die Welt erschafft und den Menschen als das Höchste.

1

Rigveda, X. Mandala (= Kreis, Buch), Hymne 81.

2

Paul Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie, Bd 1, 1. Abteilung

(1894), 5. Aufl., Leipzig 1922, S. 135.

3

Angelus Silesius (= Johann Scheffler): Cherubinischer Wandersmann (1675),

1. Buch, Nr 48.

4

Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, 1. Buch, Nr 32.