[27/28]
39
Für die V ö l k e r k u n d e m u ß u n e i n g e s c h r ä n k t e r
n o c h a l s f ü r d i e a l l g e m e i n e G e s e 1 1 s c h a f t s -
l e h r e , d i e e s a u c h m i t g e s c h i c h t l i c h e n K u l t u r e n
z u t u n h a t , d e r G r u n d s a t z d e s u n b e d i n g t e n
V o r r a n g e s d e r R e l i g i o n v o r a l l e n a n d e r e n
K u l t u r i n h a l t e n g e l t e n : für sie muß die Religion als / die
einzige erste gestaltende Kraft des gesamten Kulturlebens auf das klarste
hervortreten. Denn wenn etwas in der Völkerkunde feststeht, ist es die
Erkenntnis: daß die G r u n d z ü g e d e r n a t u r h a f t e n
K u l t u r e n j e n e r e i n f a c h e n V ö l k e r d u r c h u n d
d u r c h s a k r a l , d a ß s i e d u r c h u n d d u r c h
r e l i g i ö s - m a g i s c h b e s t i m m t s i n d . Wie könnte dann aber z.
B. eine Familienverfassung je von der Wirtschaftsverfassung abhängen?
Hier ist zweifellos ein Rückschritt hinter J a k o b B a c h o f e n gemacht
worden, welcher ganz richtig die mutterrechtliche Familienverfassung von
der Religion bestimmt sein läßt (wenn er auch darin irrte, daß das
Mutterrecht
ein
allgemeiner
Durchgangspunkt
der
Menschheitsentwicklung gewesen wäre).
Ferner darf man sich ganz allgemein den M e n s c h e n d e r
N a t u r v ö l k e r nicht so verwirtschaftlicht, veräußerlicht und
rationalisiert vorstellen, wie etwa den modernen Europäer und
Amerikaner der Großstadt. Der Mensch der Naturvölker muß in der Ruhe,
Aufgehobenheit und Naturumfangenheit seines Lebens aufgefaßt werden.
Er muß im Vergleich zum Europäer als wirtschaftlich nicht ehrgeizig
gedacht, muß als in Ruhe versunken, irrational, mit höheren Mächten der
Welt zusammenlebend, zum Teil als ekstatisch, hellsichtig und magisch
bestimmt aufgefaßt werden. Doch möge man das nach der andern Seite hin
nicht mißverstehen. Es b e d e u t e t n i c h t , d a ß d e r
N a t u r m e n s c h n i c h t l o g i s c h d e n k e n k ö n n e , n i c h t ,
d a ß e r „ p r ä l o g i s c h “ w ä r e , wie man behauptet. Das ist nicht
die Wahrheit; sondern daß er von der Verbundenheit mit dem
Übersinnlichen überall bestimmt wird und ein mehr schauendes Leben
führt, ist das Merkzeichen seines Wesens und seiner Kultur. Daher ist er
nicht so sehr an die Bahnen des zerlegenden Denkens (des diskursiven)
gebunden; ihn beherrscht mehr das Diskontinuum, das Sprunghafte der
Erlebnisse.