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Besonders ist endlich auf die Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftslehre der
Romantik
zu
verweisen.
Die Romantik war nicht, wie die liberale Auffassung behauptet, eine bloße Kunstschule
und noch weniger eine lebensfremde verschwommene „Phantastik“; sondern vielmehr e i n e
g r o ß e K u l t u r b e w e g u n g , d i e z u m e r s t e n - m a l d e r A u f k l ä r u n g
e n t g e g e n t r a t . Einer Kulturbewegung kann es aber nicht an einer eigenen
Gesellschaftslehre fehlen. Der Begründer und größte Vertreter der romantischen
Staatswissenschaft und Volkswirtschaftslehre war A d a m M ü l l e r
1
. Seine Lehre, wie die
aller Romantiker, war zuerst eine strenge Lehre von der Einheit des Lebens. K u n s t s o l l
g e l e b t w e r d e n , P h i l o s o p h i e , R e l i g i o n s o l l g e l e b t w e r d e n ,
W i s s e n s c h a f t s o l l g e l e b t w e r d e n , a u c h W i r t s c h a f t s o l l g e l e b t
w e r d e n . Was gelebt werden soll, aber in der sittlichen Einheit des Lebens, ist sittlich,
durch und durch sittlich. Darum ist auch die Romantik das reine Gegenteil neuzeitlicher
Ästheterei, vielmehr soll sich alles, die Kunst, die Philosophie wie auch die Wirtschaft in
Leben, in sittliches Leben verwandeln.
/
Ist aber alles romantische Leben eine Einheit und alles Leben sittlich, so wird auch der
„Staat“ etwas anderes sein als ein mechanisches Gerät der Ordnung oder eine Anstalt zur
Unterdrückung der schwächeren Klassen, wie ihn die Sozialisten auffassen. Der „Staat“ ist,
nach Adam Müller, „die Totalität der menschlichen Angelegenheiten, ihre Verbindung zu
einem lebendigen Ganzen“, „das ewig bewegte Reich aller Ideen“.
Wenn die romantische Staatslehre und im besonderen Adam Müller viel weniger
Wirkung ausübte als die romantische Kunst, ja in Vergessenheit geriet, so lag dies an der
Ungunst der Zeitrichtung, an dem politischen Sieg des Individualismus und, wieder auf
diesem fußend, des marxistischen Sozialismus.
V. Die Stein-Mohlische Gesellschaftslehre
Eine Abzweigung von der Hegelischen Gesellschaftslehre stellt die sogenannte
Stein-Mohlische Gesellschaftslehre dar, die seinerzeit ein größeres Schrifttum hervorrief und
daher hier nicht übergangen werden soll.
Lorenz von Stein (der Hegelianer war) und Robert von Mohl versuchten in den vierziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Wissenschaft zu begründen, als deren Gegenstand
gedacht wurde: die zwischen Volkswirtschaft und Staat liegende „Summe persönlicher
Abhängigkeitsverhältnisse“, wie sie hauptsächlich durch Besitz (Klassenbildung), durch
Arbeitsweise und Familie gegeben sind. Das Objekt dieser Gesellschaftslehre war also, ganz
ungefähr gesprochen, die „bürgerliche Gesellschaft“ — ein Begriff, der in dieser Fassung aber
gerade von Hegel geprägt wurde. Daher fußt die Stein-Mohlische Gesellschaftslehre in
Wahrheit auf
Hegel.
—
Gegen
den Stein-Mohlischen Versuch wandte sich H e i n rich
1
Adam Müller: Elemente der Staatskunst (1809), herausgegeben von Jakob Baxa, Jena
1922 (= Die Herdflamme, Bd 1). Jakob Baxa: Adam Heinrich Müller zum 100. Todestage,
Berlin 1929; vgl. ferner das Quellenwerk von Baxa: Staat und Gesellschaft im Spiegel
deutscher Romantik, Jena 1924 (= Die Herdflamme, Bd 8); ferner mein Buch: Die
Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre, 20. Aufl., Jena 1930, S. 89 ff. [26. Aufl., Heidelberg
1949, S. 102 ff.].