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Platons Staat ist darum nicht ein „Mensch im großen“, wie man ihn fälschlich auslegt,
sondern umgekehrt: der Mensch ist ein Staat im kleinen, er ist die Kleinwelt (Mikrokosmos)
des geistigen Gemeinschaftslebens. — Man darf daher auch nicht den Staat vermenschlicht
(„anthropomorph“), sondern muß den M e n s c h e n s t a a t s a r t i g (poleomorph)
auffassen. Der M e n s c h i s t S t a a t i m k l e i n e n , n i c h t d e r S t a a t
M e n s c h i m g r o ß e n !
Die Idee der Gerechtigkeit als Inbegriff des geistigen Wesens der Gemeinschaft oder,
hegelisch zu sprechen, der „ o b j e k t i v e G e i s t “ gliedert sich zuerst aus in die großen
Leistungszweige des Staates oder seiner Stände:
Leistungszweige oder
Stände
des Staates:
... Herrscher Wächter oder Krieger Wirtschafter
(
άρχοντες
)
(
φύλακες
)
(
θημ
ὶ
ουργοί)
Dem entsprechen dann die Anforderungen, die an die Staatsglieder, die Menschen, gestellt
werden in der Form von
Tugenden:
... Weisheit Tapferkeit
Besonnenheit oder Mäßigkeit
(
φρόνησΐς
) (
ανδρεία
)
(
σωφροσύνη)
Gesamtheit aller Tugenden
= jeder hat das Seinige zu tun
(οίχεισπραγία
= suum cuique)
= Gerechtigkeit
(θικαιοσύνη).
Diese Tugenden werden erlangt durch den reinen und harmonischen Gebrauch der
Teile oder Vermögen der Seele:
... Geist
Gemüt
Begehren
(
νονς)
)
(θυ
μοειδές)
(
έπιθυμητικόν
)
Diesen Seelenteilen entsprechen wieder die Körperteile
—
Kopf (Geist),
—
Brust (Gemüt, Tapferkeit) und
— Unterleib (Begierde). Der oberste Stand herrscht
1
. Die Weisen sind es, welche die
Ideen schauen und das Geschaute weitergeben — ein e n t s c h e i d e n d e r B e g r i f f
d e r R e g i e r u n g , d e r i n a l l e n i d e a l i s t i s c h e n L e h r g e b ä u d e n
e r h a l t e n b l e i b t .
Platons Gesellschaftslehre besteht demnach darin, die wesensgemäße Gliederung des
Gemeinschaftslebens zuerst in jenen großen Lebensinhalten oder Leistungszweigen
aufzuzeigen, welche von den verschiedenen S t ä n d e n aus- / gefüllt werden; dann die
Gliedschaftsanforderungen an den Menschen in Form der T u g e n d e n ; und die
Erlangung dieser Tugenden durch den Gebrauch der S e e l e n k r ä f t e zu zeigen.
P l a t o n s G e s e
11
s c h a f t s
1
e h r e i s t e i n e L e h r e v o n
d e r
G l i e d e r u n g
d e s
o b j e k t i v e n
G e i s t e s
n a c h
d e n
S a c h e r f o r d e r n i s s e n d e s r i c h t i g e n G e m e i n s c h a f t s l e b e n s o d e r
d e r G e r e c h t i g k e i t .
Nur um das zu zeigen, wurde im vorstehenden auf Einzelheiten eingegangen. Da sich bei
allen idealistischen Gesellschaftslehren ein grundsätzlich ähnlicher Sachverhalt vorfindet,
dürfen die folgenden Darlegungen um so kürzer gefaßt werden.
1
Platon: Politeia, V, 473 d ff.; siehe Platons Staatsschriften, griechisch und deutsch,
eingeleitet und erläutert von Wilhelm Andreae, 2. Teil: Staat, Erster Halbband, Jena 1923, S.
427 (= Die Herdflamme, Bd 6).