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die sich bei den meisten, unbewußt liberal eingestellten Schriftstellern der
Gegenwart nicht findet, muß stets davon ausgehen, daß das gesamte
Gemeinschaftsleben vor dem Einzelnen ist
1
.
Dies gilt auch für die Sittenlehre Meister Eckeharts und der deutschen
Mystik, die trotz der unmittelbaren Verbindung der Seele mit Gott im
mystischen / Schauungsakte (Abgeschiedenheitslehre) die Befaßtheit des
Einzelnen in der objektiven Sittlichkeit, im objektiven Geiste, bejahte und
in ihrer Weise eine Philosophie der sittlichen Tat war
2
.
IV. Der deutsche Idealismus
Die Auflösung der Ideenlehre des Mittelalters durch den sogenannten
Nominalismus (wonach die Idee, das Allgemeine nur „Name“, wirklich
allein das Einzelne wäre) leitete das Naturrecht der Aufklärung ein und
führte schließlich zu jener naturalistischen „Soziologie“, deren
Werdegang und Schulen wir früher betrachteten.
Im deutschen Geiste erwachte zuerst der Widerstand. Bei L e i b - n i
z u n d K a n t sehen wir das Ringen gegen Naturalismus, Empirismus
und Individualismus in der Staats- und Gesellschaftslehre noch nicht zu
völligem Siege kommen. Der Begriff des „Apriori“, mit dem Kant in der
Erkenntnislehre den Empirismus und Naturalismus besiegt und mit dem
er auch eine nicht-empiristische und nicht-naturalistische Sittenlehre zu
begründen vermag, reicht infolge seiner subjektiven Fassung nicht mehr
für die Staatslehre aus. Hier finden wir Kant in den wesentlichen Punkten
zumeist noch im Subjektivismus befangen. Recht und Staat werden noch
im Sinne der Aufklärung bestimmt.
Die Gesellschaftslehre Kants, Fichtes, Hegels wird später in anderem
Zusammenhange noch behandelt werden. Hier folge nur noch eine kurze
Übersicht.
1
Vgl. Johannes Sauter: Thomistische Gesellschafts- und Wirtschaftslehre, in:
Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd VIII, 4. Aufl., Jena 1928.
2
Noch immer die beste Quelle: Meister Eckehart, herausgegeben von Franz Pfeiffer,
anastatischer Neudruck der Ausgabe von 1857, in der Reihe: Deutsche Mystiker des 14.
Jahrhunderts, Göttingen 1914 (= Sammlung Kösel, Bd 77). Weiteres über Meister Eckehart
siehe unten S. 241 ff.