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[82/83]

III.

Die Vertragslehre

Die praktisch weitaus wichtigste Form des Individualismus ist indessen

die Theorie vom Staatsvertrag. Hier verzichten die Individuen um der

Ordnung, das heißt um der mechanischen Hilfeleistung willen, welche sie

einander hinsichtlich ihrer Sicherheit gewähren können und wollen, auf

Ausübung ihrer unbeschränkten Freiheitsrechte: so gründen sie den Staat.

Gesellschaftsstaat

=

gegenseitige

Handreichung,

gegenseitige

Hilfeleistung. Der Staat wird also hier weder verneint, wie vom

Anarchismus, noch als Herrschaftsausübung des Stärkeren erklärt,

sondern als reine Ordnungs- und Sicherheitseinrichtung. Er ist ein

Versicherungsverein / auf gegenseitigen Schutz, und die Prämie, die man

dafür zahlt, ist äußere Beschränkung unverletzlicher Freiheitsrechte.

Auch dieser Staat ist n i c h t e t h i s c h e r , sondern allein

z w e c k m ä ß i g e r ,

n u t z h a f t e r

( u t i l i t a r i s c h e r )

N a t u r . Es muß aber schon jetzt nachdrücklich betont werden, daß

alles, was über den Begriff der Ordnung nur um das mindeste hinausgeht

(z. B. Kulturaufgaben des Staates außer den Sicherheitsaufgaben),

unindividualistische

Gedankengänge

in

die

Vertragstheorie

hineinschmuggelt. Denn wenn die Gesellschaft auch Kulturaustausch und

Kulturschöpfung in sich schließen soll, wird schon aus Gegenseitigkeit,

aus dem Zusammenhang der Individuen ein eigenes, über sie

hinausgehendes Ganzes geschöpft und damit der individualistische

Standpunkt verlassen.

Die Vertragstheorie ist unter den individualistischen Staatstheorien die einzig praktische,

im geschichtlichen Leben überhaupt anwendbare. Schon die S o p h i s t e n im Altertum

hatten sie zum Teil vertreten. Mit der Naturrechtslehre des Althusius, Grotius, Hobbes,

Locke, Spinoza, der französischen Aufklärer, Samuel Pufendorfs und anderer wurde die

Staatstheorie die ganze Neuzeit hindurch auf individualistischer Grundlage errichtet. Als

besondere Formen der Vertragstheorien lassen sich kurz unterscheiden: der altgriechische

Sophismus, der neuere Physiokratismus und Smithianismus (mit manchen Vorbehalten), der

schroffere Ricardismus, endlich der Liberalismus, der als die praktische, staatspolitische

Folgerung jenes wirtschaftlichen Individualismus, wie er in den Theorien von Quesnay bis

Ricardo niedergelegt wurde, zu bezeichnen ist und dessen äußerste Form das sogenannte

„Manchestertum“ bildet.