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die unmittelbarste und reinste Folgerung aus dem Begriffe des / absoluten

Einzelnen. Wenn ich den Gedanken zu Ende denke, den Prometheus

ausspricht: „Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“,

dann ist die Folgerung: „Mir geht nichts über mich“, auch unvermeidlich.

Es ist das nicht rohe Eigensucht, niedriger Egoismus, sondern logisch

notwendige Folge, die andere Seite der geistigen Selbstgenugsamkeit. Es

k a n n mir ja nichts über mich gehen, weil ich innerlich ganz allein und

einsam bin. Ich darf daher gar nicht anders denken. Es ist sittlich für mich,

reiner Egoist zu sein. Es ist sittlich für Fafner, als Drache den Schatz zu

bewachen: „Ich lieg’ und besitz’.“ Die andern Menschen k ö n n e n mich

im Grunde nichts angehen, denn sie sind als rein äußere Faktoren gesetzt.

— Dem absoluten Einzelnen entspricht dann die absolute Freiheit, die

absolute „Herrschaftslosigkeit“ oder „Anarchie“.

Wie stellt man sich aber das Zusammenleben vieler Menschen auf

dieser Grundlage vor? Da ist zuerst ein gesellschaftlicher Nihilismus, wie

er etwa durch die Gestalt des bombenwerfenden Anarchisten vertreten

wird. Dann der „Edelanarchist“. Dieser will durch gutes Beispiel wirken

und auf der Grundlage absolut freiwilliger Genossenschaften das

gesellschaftliche Leben aufbauen. Wer z. B. Lust hat, Eisenbahner zu

werden, tritt in die Genossenschaft der Eisenbahner ein. Eine letzte

Möglichkeit wäre dann noch die, einsam zu leben. — Sowohl die

Einsamkeit wie die vollkommen freiwillige Genossen- schaftlichkeit sind

aber praktisch völlig unzulänglich, um menschliche Gesellschaft zu

gestalten. In Wirklichkeit kommt dabei ein Chaos heraus — der

Anarchismus erweist sich praktisch als gänzlich unmöglich. Aber solange

es Menschen gibt, hat es trotzdem den Anarchismus gegeben, von

unklaren Schwärmern oder von Gewalttätigen und Verzweifelten

vertreten.

S c h o p e n h a u e r u n d N i e t z s c h e haben in manchen ihrer Gedankengänge

Verwandtschaft mit solcher nihilistischen Betrachtungsweise (wenn auch ihre Gedanken

staatstheoretisch nicht zu Ende gedacht sind). So sagt Nietzsche im Zarathustra: „Dort, wo

der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch.“ — Viele andere sogenannte anarchistische

Systeme (Tolstoi!) stellen wieder ein seltsames Gemisch von schrankenlosem Individualismus

und utopischem Kollektivismus dar und laufen dann meistens weniger auf eine eigentliche

Theorie der Gesellschaft als auf verworrene und arglose Beglückungstheorien hinaus.