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II. Die Herrschaftslehre

Die zweite Art individualistischer Auffassung wird durch die Theorie

Machiavellis am reinsten zum Ausdruck gebracht. Machia- velli faßt den

Staat als Herrschaftsverhältnis der Individuen auf, indem er in seinem

Bestand eine nackte Tatsache / der Unterwerfung erblickt. Folgerichtig

heißt er darum die Fürsten, dieses reine Herrschaftsverhältnis, mit allen,

auch unmoralischen Mitteln aufrechterhalten. „Jemand, der es darauf

anlegt“, so sagt er im „Fürsten“, „in allen Dingen moralisch gut zu handeln,

muß unter einem Haufen, der sich daran nicht kehrt, zugrunde gehen.

Daher muß ein Fürst, der sich behaupten will, sich auch darauf verstehen,

nach Gelegenheit schlecht zu handeln . . . “ Der Staat und jedes

gesellschaftliche Verhältnis überhaupt erscheint so als dauernde

Unterwerfung des Besiegten durch einen Sieger. Eine sittliche Natur kann

diesem staatlichen Verhältnis nicht eigen sein — ein Zustand, der ja in

einigen

Vorgängen

der

R e n a i s s a n c e z e i t

annähernd

Verwirklichung fand. Hier hat auch der Lehrbegriff von der

„Ausschaltung der Moral aus der Politik“ seinen Ursprung. „Ich wage es zu

behaupten“, sagt Machiavelli, „daß es sehr nachteilig ist, stets redlich zu

sein; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig, redlich zu scheinen, ist

sehr nützlich.“ — Die vielen Versuche, aus Machiavelli doch den

humanen Idealisten herauszuholen, sind erfolglos. Das sollte man sein

lassen. Der Lehre Machiavellis entsprach sein Charakter ganz.

Auch im Altertum war die nackte Machtlehre schon entwickelt. Thukydides gibt uns von

dieser und von der Verwilderung im Peloponnesischen Kriege ein Denkmal in dem

berühmten Gespräch der Athener mit den Meliern. Letztere, von den Athenern zur

Unterwerfung aufgefordert, antworteten, sie würden lieber auf Gott und die Hilfe der ihnen

stammverwandten Lakedaimonier vertrauen. Worauf die Athener ohne Scham und Scheu

erwidern: „Wir meinen, daß, wie die Gottheit nach gläubiger Vorstellung, so der Mensch

handgreiflich kraft eines zwingenden Naturdranges ü b e r a l l ü b e r d i e j e n i g e n

h e r r s c h e , d e n e n e r a n M a c h t ü b e r l e g e n i s t . Nach diesem Gesetze

richten wir uns ..."

1

1

T h u k y d i d e s : Geschichte des peloponnesischen Krieges, V. Buch, 105, 1, 2.

η

ϒ

ούμεα γάρ τό τε θεϊον δόξη, τό άνθρώπεών τε σαφώς

διά

παντός ύπό φύσεως

άναγκαίας, ού αν κράτη, άρχειν καί ήμεϊς ούτε θέντες τον νόμον

...“

Vgl. jetzt Adolf

Menzel: Kallikles, Eine Studie zur Geschichte der Lehre vom Rechte des Stärkeren, Wien

1922.