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steslebens aufwiese — eine communio sanctorum, ein Kloster from-

mer Brüder —, dann müßte ihm jegliche Regelung und organisato-

rische Einwirkung auf die geistige Wechselbeziehung seiner Glieder

als Aufgabe zugeschrieben werden. Einen solchen Staat gibt es aber

nicht, weil es eine solche Gemeinschaft nicht gibt. Daher ist der

Staat organisatorisch nur ein Gradbegriff, wie wir auch schon früher

sahen. Umgekehrt folgt im Hinblick auf die empirische Uneinheit-

lichkeit des Lebens: je mehr sich der Staat von jenem Ideal der

communio sanctorum entfernt, je uneinheitlicher das Kulturleben

einer Gruppe ist, um so nötiger ist die Delegierung von Organisatio-

nen in untergeordnetere, öffentliche und „private“ Sphären, um

den Ausgleich der Gegensätze, die Beweglichkeit der Umbildung zu

ermöglichen. Um so zerrissener ist allerdings ein solches Gemeinwe-

sen, um so weniger einheitlich durch den Staat organisiert. Das

entspricht aber / genau den Erfahrungen der Geschichte. Man

denke zum Beispiel an die Verhältnisse in unsicheren Zeiten, etwa

an die „Interregnum“ genannten schweren Verfallzeiten des Deut-

schen Reiches

1

.

Hiermit sind die obersten Grundsätze der Politik gesellschafts-

theoretisch abgehandelt. Wir wenden uns noch kurz zwei weiteren

Begriffen, die geschichtlich eine Rolle spielten, zu.

IV. Die Menschenrechte

Das Naturrecht und die von ihm beherrschten Verfassungen stellen „unver-

äußerliche Menschenrechte“ an die Spitze. „Das Ziel aller politischen Gesell-

schaften“, heißt es in Artikel 2 der berühmten „Erklärung der Menschenrechte“

der Französischen Revolution, „ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußer-

lichen Rechte der Menschen — n ä m l i c h „Freiheit, Eigentum, Sicherheit, Recht

des Widerstandes gegen willkürliche Bedrückung“.

Wie steht es nun mit der Achtung der Menschenrechte? Liegt darin nicht ein

individualistischer Kern, über den auch die ganzheitliche Auffassung nicht hin-

wegkommt?

Individualistisch erscheinen die Grundfreiheiten oder Menschenrechte (gleich-

gültig wie man sie im besonderen formuliert) als die Grundpfeiler autarker Be-

tätigung des Einzelnen. Muß nicht die universalistische Theorie auch ein solches

Mindestmaß annehmen? Gewiß! aber nicht als Mindestmaß von Autarkie, son-

dern als Maß des g l i e d h a f t e n Eigenlebens (gliedhafter vita propria). Uni-

1

Weiteres über Anstaltswesen, Staat und Staatsaufgaben siehe unten viertes

Buch, S. 591 ff.