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Wie verhält es sich dagegen mit dem zweiten Elemente jenes Grundsatzes:

mit der größten Zahl? Dieses erscheint in der Tat als u n i v e r s e l l e s Element,

es entspricht offensichtlich derselben Einschränkung, welche die G l e i c h h e i t

in staatspolitischer Hinsicht an der Autarkie darstellt. G l e i c h e Freiheitssphären

für alle ergeben sich notwendig, wenn man den Staat als V e r t r a g denkt.

Genau ebenso: die größte Zahl, wenn man Glückseligkeit (Nutzenmaximum)

als Lebensideal des autarken Individuums denkt und die gesellschaftliche Ver-

bindung in den Dienst der Erlangung dieses Maximums stellt. Die Gesellschaft

wird also hier:

(1)

vertragstheoretisch gedacht, das heißt als tauglich zur Erreichung von

Lebenszielen des autarken Individuums anerkannt (daraus folgt außerdem Gleich-

heit, Minimum der Staatsaufgaben und was sonst Elementarbegriffe des Indivi-

dualismus sind);

(2)

es wird das menschliche Lebensideal, das der reine Individualismus sonst

noch offen hält, als Höchstmaß von Nutzen oder Glückseligkeit bestimmt;

indem nun die Gesellschaft als taugliches Mittel betrachtet wird, den Einzelnen

— und das heißt nach dem Prinzip der vertragsmäßigen Gleichheit: möglichst

jedem, der möglichst großen Anzahl von Staatsmitgliedern zur Erreichung dieses

Ideals behilflich zu sein, wird allerdings die Aufgabe der Gesellschaft aus einer

rein negativen (der gleichen Sicherheits- und Rechtsgewährung für alle) zu einer

positiven: der gleichen Hilfeleistung zur Erreichung des utilitarischen Lebensziels

für / alle. Dasselbe universalistische Element, das im Begriff der Gleichheit

nur negativ auftrat, tritt hier in positiver Gestalt auf! „Größte Zahl“ heißt zu-

gleich: größtmögliche Indienststellung der Gesellschaft — ein Begriff, welcher

dem universalistischen Grundsatz größter Gemeinschaftlichkeit von außen her

zum Verwechseln ähnlich sieht. Dieses kecke, pseudouniversalistische Ergebnis,

auf Grund dessen sich jenes System „sozialer Utilitarismus“ nennt, darf aber

über die wahre Natur des utilitarischen Gedankens nicht täuschen. Seine Ele-

mente: Nützlichkeit und Autarkie sind beide rein individualistisch. Die praktische

Umkehrung in „Altruismus“ und „Mutualismus“ beweist nur, welch elementare

praktische Notwendigkeit den Individualismus zu universalistischen Gestaltungen

drängt, damit der empirischen Wirklichkeit genug getan werde, und wie unfähig

die individualistischen Grundbegriffe von sich aus sind, geschichtliche Tatsachen

der Gesellschaft zu erklären. Sie müssen so sehr verrenkt und verdreht werden,

daß schließlich das Gegenteil des Anfanges herauskommt.

Trotzdem nun das Begriffselement der „größten Zahl“ universeller Art ist,

kann es der Universalismus nicht eigentlich anerkennen. Es ist eben, wie der

Begriff der Gleichheit, auf individualistischer Grundlage aufgebaut, daher falsch.

In einem rein tatsächlichen Sinne ist das Streben nach Glückseligkeit freilich

a l l g e m e i n und als eine gegebene Voraussetzung, mit der jede Gesellschafts-

lehre und Sittenlehre rechnen muß, einfach hinzunehmen. „Glücklich zu sein,

ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens und also

ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrens“

1

— das hat Kant selbst

ausdrücklich anerkannt, trotzdem aber die Moral nicht darauf gegründet. Ebenso-

wenig kann die Gesellschaftslehre auf diese Flachheit eingehen. „Denn obgleich

der Begriff der Glückseligkeit der praktischen Beziehung der O b j e k t e aufs

Begehrungsvermögen a l l e r w ä r t s zum Grunde liegt, so ist er doch nur der

allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungsgründe und bestimmt nichts spe-

1

Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788, S. 25.