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A. L e h r g e s c h i c h t l i c h e Ü b e r s i c h t

Für den Begriff der Nation oder des Volkstums findet man im herrschenden

Schrifttum eine ganze Reihe von Merkmalen angeführt, so Staat, Sprache, Rasse,

Religion, Klima und geographische Verhältnisse, gemeinsame Überlieferung und

Kultur, endlich das ausdrückliche Bewußtsein völkischer Zusammengehörigkeit.

Sobald man aber die geschichtlichen Volkstümer unter den aufgezählten Ge-

sichtspunkten betrachtet, wird man sofort gewahr, daß weder ein einzelner von

ihnen noch mehrere zusammen genügen, das Wesen des Volkstums zu erfassen,

die geschichtliche Wirklichkeit zu erklären. Wenn man fragt, waren die Men-

schen jenes Staates eine Volkheit, weil sie diesen Staat bildeten, waren sie eine

Volkheit, weil sie eine Sprache sprechen, einer Rasse angehörten usw., so können

wir diese Fragen nicht mit Ja beantworten; es zeigt sich zwar deutlich, daß alle

diese Merkmale wichtige Mittel für das Dasein des Volkstums sein müssen, mit

diesem selbst aber nicht einerlei sind.

1 . D e r S t a a t

Was zuerst den S t a a t anlangt, so hat man ihn sehr häufig mit der völkischen

Einheit gleichgestellt. So sagt Moh

1

: „Die Gesamtheit der Teilnehmer des

Staates bildet die Nation.“

1

Neuerdings haben namentlich die Geographen

R a t z e l und Alfred K i r c h h o f f diese Auffassung verfochten. Ratzel sagt:

„Die Nation ist ein Volk in politischer Selbständigkeit oder fähig dazu.“

2

Nach

K i r c h h o f f „gehören Staat und Nation unlösbar zusammen . . ,“

3

und er geht

in dieser Auffassung so weit, daß er behauptet, vor 1871 habe es „keine deutsche

Nation im heutigen Sinne gegeben, weil es noch kein Deutsches Reich gab.

Unter deutscher Nation verstand man bis dahin in weit unbestimmterer Weise

den räumlich... viel weiteren Kreis aller derjenigen, die deutsch als ihre Mutter-

sprache reden.“

4

Ähnlich R ü m e l i n , dem Nation oder Volk „jede durch eine

Staatsgewalt beherrschte Menge“ ist. Allerdings stellt er diesem „politischen

Begriff“ des Volkstums den „anthropologischen“ gegenüber, wonach „jede durch

einen auf Abstammung und Sprache gegründeten Typus sich abgrenzende Gruppe“

ein Volk bildet

5

.

/

Daß aber Staat und Volkstum nicht einerlei sind, beweisen Staaten wie

Österreich, Rußland, die Türkei vor dem Kriege; denn diese Staaten wurden von

einigen ihrer Völker von innen heraus bekämpft. Wenn sich die slawischen

1

Robert von Mohl: Enzyklopädie der Staatswissenschaften (1859), 2. Aufl.,

Tübingen 1872, S. 127.

2

Friedrich Ratzel: Die Erde und das Leben, Eine vergleichende Erdkunde,

2 Bde, Leipzig 1902, Bd 2, S. 674.

3

Alfred Kirchhoff: Zur Verständigung über die Begriffe Nation und Natio-

nalität, Halle 1905, S. 47 und öfter.

4

Alfred Kirchhoff: Zur Verständigung..., S. 53. — In Widerspruch hier-

zu wird S. 54 ff. allerdings der Begriff der Nation als eines bloß kulturellen Zu-

sammenhanges zugegeben und neben der „Staatsnation“ die „Kulturnation“ an-

erkannt.

5

Gustav von Rümelin: Über den Begriff des Volkes (1872), jetzt in: Kanzler-

reden, Tübingen 1907, S. 80.

3

!