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punkte für die Sozialpolitik ergibt, dort, wo man sich noch nicht
scheute, den reinen Grundsatz zu vertreten, wo man seine Ergeb-
nisse noch nicht zu verhüllen trachtete. So unter anderem bei Mal-
thus
1
. Er sagt: Es sind nach dem Bevölkerungsgesetze zu viele Men-
schen da. Nicht alle können auf der vorhandenen Bodengrundlage
ernährt werden: die Armen. In der ersten Auflage seines Werkes
standen die Worte: Die Natur hat für diese Überzähligen kein Ge-
deck aufgelegt und sie säumt nicht, diesen ihren Befehl / auszufüh-
ren. Die Frage, ob man dem nicht durch Unterstützung usw. ab-
helfen könne, diese Grundfrage, wurde von dem Pfarrer Malthus
gestellt, der gerne den Armen geholfen hätte — mußte aber von
dem Volkswirtschaftler Malthus grundsätzlich verneint werden.
Malthus sagte: Nach den exakten Gesetzen, nach dem Mechanismus
der Wirtschaft ist jede dauernde Hilfe ausgeschlossen, denn wenn
wir den Armen Geld geben, dann erscheinen sie auf dem Markte,
die Preise der Lebensmittel steigen und dadurch werden genau so
viele Menschen, die bei den bisherigen Preisen gerade noch leben
konnten, in die Armut hinabgestürzt, als durch die Unterstützung
aus ihr herausgehoben wurden. Das Ergebnis ist also, daß jede
durchgreifende „Armenpolitik“, wie man damals sagte, oder jede
„Sozialpolitik“, „Sozialreform“, wie man später in Deutschland
sagte, nach den Gesetzen der Volkswirtschaftslehre als g r u n d -
s ä t z l i c h u n m ö g l i c h e r s c h e i n t !
Die alte klassische Schule kam über diesen Standpunkt nicht nur
nicht hinaus, sondern befestigte ihn noch. Ricardo gründet darauf
sein „ehernes Lohngesetz“ (wie es später von Lassalle genannt
wurde), das auch ohne Übervölkerung, rein aus den Preisgesetzen
heraus, die Unmöglichkeit behauptet, den Lohn dauernd zu heben.
Der Preis für die auf die Dauer stets reichlich angebotene Arbeits-
kraft sinkt nach Ricardo auf den Selbstkostenpreis, auf die „Repro-
duktionskosten“, das heißt — ungenau, aber im Geiste der Wahr-
heit ausgedrückt — auf das „physiologische Existenzminimum“
herab.
Die Armentheorie Malthusens und die Lohntheorie Ricardos sind
1
Thomas Robert Malthus: Essay on the Principle of Population as it Affects the
Future Improvement of Society, London 1798, deutsch: Eine Abhandlung über
Bevölkerungsgesetz (1905), 2. Aufl., Jena 1924—25.