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Die Werke Adam Müllers sind längst vergriffen, ja, zum Teil ver-

schollen. Nur in wenigen alten Büchereien findet sich noch das eine

oder andere seiner Bücher. So kam es, daß heute sein Name verklun-

gen ist, nur aus großen dogmengeschichtlichen Werken sagenhaft be-

kannt — der Name des größten deutschen Volkswirtes!

Worin seine Größe lag, dafür können wir Heutigen, die wir die

freie kapitalistische Wirtschaft durchlöchert finden, den Liberalismus

und jede andere Form des Individualismus gestrandet und neue Zu-

sammenfassungen, neues Streben nach Ganzheit überall am Werke

sehen, schon leichter ein Verständnis aufbringen als das Geschlecht

vor uns oder gar als unsere Großväter, die die liberale 48er Revo-

lution machten und selbst gänzlich im Bann des Individualismus

lebten. Das unsterbliche Verdienst Adam Müllers ist, daß er inmitten

einer aufklärerischen Zeit, inmitten einer rein individualistischen

Denkrichtung, da Adam Smith, David Ricardo und ihre Schule

überall die Siegesfahnen entrollten, da das Wesen der Wirtschaft aus

Eigennutz und freier Willkür des Einzelnen erklärt, das Gedeihen

aller auf den freien Wettbewerb aufgebaut, der Staat aus dem Ur-

vertrag der souveränen Individuen abgeleitet wurde — daß er in-

mitten einer solchen Zeit der Vereinzelung und Mechanisierung eines

sah: das Ganze über dem Einzelnen und jeglichem Vereinzelten, das

Leben über dem Mechanismus. Was Adam Müller geschaffen, in eine

Formel zu bringen, ist nicht möglich. Soll dennoch ein Stichwort ge-

prägt werden, so möchte es am liebsten sein eigenes Wort sein von

dem „ G e h e i m n i s d e r G e g e n s e i t i g k e i t a l l e r V e r -

h ä l t n i s s e d e s L e b e n s “ , oder in unserer heutigen Kunst-

sprache ausgedrückt: das soziologische Verfahren.

Soziologisches Verfahren! Seit Auguste Comte und Herbert Spen-

cer haben sich die Wissenschaften dreier großer Volkskreise, der Ro-

manen, Anglikaner, Deutschen instinktiv bemüht, die individuali-

stische Vereinzelung, Zerreißung und Abstraktion durch eine Erfor-

schung des Ganzen der Gesellschaft und Geschichte zu berichtigen.

Da sie aber selber in der individualistischen (kausalen, mechanischen)

Denkweise blieben, mußten sie einer uferlosen „Induktion“ der Völ-

kerkunde, Kindespsychologie, Geographie, Technik, Wirtschafts- und

Kulturgeschichte verfallen. Die Volkswirtschaftslehre selber mußte

4 Kleine Schriften