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Diese Bildung war bisher sehr im Banne des westlichen Individualismus, der
in Frankreich die Form eines kahlen Rationalismus, in England die Form eines
materiellen Utilitarismus angenommen hatte.
In der Staatslehre war und ist noch immer, wenn auch versteckt, das so-
genannte „Naturrecht“ an der Herrschaft mit seiner Vorstellung von dem ur-
sprünglich und seinem Begriffe nach selbständigen Menschen, der sich aus seiner
absoluten natürlichen Freiheit heraus in einem „Vertrag“ freiwillig der von ihm
begründeten Staatsgewalt unterwirft; in der Volkswirtschaftslehre war und ist
auch heute noch alleinherrschend die Vorstellung von der selbständigen (auto-
nomen) Wirtschaftshandlung der Einzelnen, die durch Arbeitsteilung angeblich
eine Volkswirtschaft zusammensetzen, ähnlich wie die in sich beruhenden ein-
zelnen Menschen durch ihr Zusammentreten den Staat bilden sollen.
Von lebenswichtigen Verbänden, vom Volkstum, vom inneren Wert des
Staates als einer s i t t l i c h e n Lebensgemeinschaft, von völkischer Wirtschaft
kommt in jenen Lehren bei den entscheidenden theoretischen Lehrbegriffen so
gut wie nichts vor und ganz allgemein nichts von der s c h ö p f e r i s c h e n
K r a f t g e i s t i g e r G e m e i n s c h a f t , die doch überall zeitlich wie lo-
gisch vor dem Einzelnen da ist, die seine geistige Lebensform, die Bahn und
Stätte aller seiner Geistigkeit bildet.
Wenn wir uns daher aus den Fesseln der individualistischen Bildung befreien
wollen, steht uns ein einfacher Weg offen, der da heißt: Zurück zu unseren eige-
nen deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsforschern, zurück zu den eigensten
philosophischen Grundlagen ihrer Wissenschaft, nämlich zum deutschen Idealismus
und zur Romantik, die hoch über den westlichen Individualismus und Utilitaris-
mus hinausragt; die dagegen mit der platonisch-aristotelischen Lehre innerlich
verwandt ist, indem sie, wie diese, den Gedanken der s i t t l i c h e n N a t u r
d e s S t a a t e s u n d d e r s c h ö p f e r i s c h e n K r a f t d e r g e i s t i g e n
G e m e i n s c h a f t e n als des Ersten, das logisch vor dem Einzelnen und über
dem Einzelnen steht, voranstellt; die daher Staat und Volkstum nicht als tech-
nische Äußerlichkeiten, sondern als Innerlichkeiten, nicht als Freiheitsbeschrän-
kungen, sondern als Freiheitserweiterungen und Freiheitsbefestigungen wie als
die primären Bildner alles Geistigen begreift — die u n i v e r s a l i s t i s c h e
s t a t t d e r i n d i v i d u a l i s t i s c h e n A u f f a s s u n g v o n S t a a t ,
W i r t s c h a f t , G e s c h i c h t e u n d L e b e n .
F i c h t e hat in seiner Staatslehre zum ersten Male das individualistische
Naturrecht überwunden, indem er der von Grund auf irrigen Vorstellung des
Individualismus vom geistig in sich beruhenden und geistig sich selbst erzeu-
genden Menschen den großen Gedankengang entgegenstellte; daß man den Men-
schen seinem Begriffe nach gar nicht konstruieren könne, ohne ihn als Vielheit zu
konstruieren. „Sobald man den Begriff des Menschen“, sagte Fichte im Jahre 1796,
„vollkommen bestimmt, wird man von dem Denken des einzelnen aus ge-
trieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können.“ Damit
war der unselige Irrtum vom souveränen Einzelnen des Hobbesschen und
Rousseauschen Naturzustandes in das Reich der Fabel verwiesen.
Schelling, Hegel, Baader, Karl Christian Friedrich Krause, Friedrich Schleier-
macher haben die Lehrbegriffe dieser anti-individualistischen Staatsauffassung so
weit ausgebildet, daß sie heute das platonisch-aristotelische Gebäude überragen
und die Grundlage einer praktischen Staatskunst zu bilden vermögen.
A d a m M ü l l e r hat 1809 in seinen „Elementen der Staatskunst“ in denk-
würdiger und umfassendster Weise eine Staatslehre, Gesellschaftslehre und Volks-
wirtschaftslehre vorgelegt, die vor anderen berufen ist, der Kern einer modernen