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Gerade die nüchternste, strengste zerlegende Betrachtung kann
nicht leugnen, daß in der Zeugung bei allem organischen Leben die
Gattung als eine eigene wirksame Macht auftritt, als I d e e. Die
Eichenheit, die Idee der Eiche, ist es, die zur Eiche wird, nicht die
sich befruchtenden einzelnen Eichen; die Menschheit, die Idee,
ist es, die zum Menschen wird, nicht die sich verbindenden einzel-
nen Menschen. Daß auch die neuzeitliche Vererbungslehre diese Er-
kenntnisse befestigt hat, ist allbekannt. / Aus dem Geschäft der
einzelnen Organismen kann nie und nimmer das Hervorgehen
neuer Organismen, kann nicht einmal die Kreuzung von Männli-
chem und Weiblichem erklärt werden. Es ist das Hindurch eines
allgemeinen höheren Gattungslebens durch das Einzelleben, es ist
das Sich-Eingeben eines Überindividuellen, das gerade die ge-
naueste, strengste Untersuchung, wenn anders sie den Tatsachen
getreu verfährt, findet. Und das Sich-Eingeben des Höheren ist dem
Niederen das schaffende G e s i c h t , d i e I d e e . Und darum fin-
det dieselbe strengste Untersuchung das V e r h ä l t n i s d e s
U r b i l d l i c h e n u n d A b b i l d l i c h e n im Verhältnis von
Gattung und Einzelwesen, oder Idee und Glied der Idee mit
aller erdenklichen Klarheit vor.
Und so wird auch der Zug der S e h n s u c h t , die im Einzel-
wesen wohnt, nicht getäuscht, sondern findet durch die Herabkunft
des Allgemeinen, das gleich einem Blicke des göttlichen Geistes ihn
durchdringt, Bestätigung und Erfüllung. Darum ist auch jede sicht-
bare Liebe von der unsichtbaren, der Zug des Einzelnen zum Ein-
zelnen von jenem zum Höheren heimlich erregt und geleitet
1
.
Sehnsucht und Glaube legen als Zeugnisse geistiger Rückverbun-
denheit auch Zeugnisse ab von der Idee.
Wie aus der Rückverbundenheit und der Ausgliederung, so er-
geben sich zuletzt auch aus dem Gesamtzusammenhange aller unse-
rer bisher entwickelten Lehrbegriffe die Ideen als ein notwendiger
Schlußpunkt.
„Schaffen aus Geschaffenwerden“; „was im Schauen angesam-
melt wurde, bricht im Wirken aus“; „Ausgliederung folgt aus
1
Platon: Philebos, 53 d ff.: Alle Liebe des Sinnlichen geht in gewisser
Weise auf seine übersinnliche Idee hin.
Aristoteles: Metaphysik, VII, 6: Zug der Sichtbarkeit zu dem unbewegten
Beweger.