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Verbindung mit entfernten Gebieten, z. B. des Lebens mit der Stoff-
lichkeit, entsteht neben der echten Gattung als des erzeugenden
oder unmittelbar ausgliederndes Allgemeinen, z. B. „Menschheit“,
noch ein ferner liegendes, gleichsam nur durch Rückgang auf ab-
liegende, umfassendste Ganzheiten erlangbares, anhaftendes (acci-
dentielles), mehr m i t t e l b a r e s A l l g e m e i n e s , z. B. das
„Weiße“ am Menschen. Doch ist hier, wo nur das Verhältnis von
Theorie und Geschichte in Frage steht, nicht der Ort, den logischen
Folgerungen weiter nachzugehen
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Z u s a t z ü b e r N a t u r u r s ä c h l i c h k e i t u n d S e l b s t h e i t i n d e r
G e s c h i c h t e
Einzelheit und Einmaligkeit im Sinne von Persönlichkeit, Selbstheit, zeigte
sich als hervorstechende Erscheinung in der Geschichte (wie allerdings in jeder
Ganzheitslehre). S i n d a b e r S e l b s t h e i t u n d N a t u r u r s ä c h l i c h -
k e i t v e r e i n b a r ? Beide schließen einander aus, da das Mechanische
nicht persönlich sein kann. Soll Geschichtswissenschaft — wie überhaupt
Ganzheitswissenschaft, auch theoretische — als eigene Wissenschaft neben der
Naturwissenschaft möglich sein, dann muß die Lehre von der geschlossenen
Naturursächlichkeit (der mechanischen Ursächlichkeit des geschlossenen Natur-
systems) verneint werden. Ohne Verneinung der geschlossenen Naturursächlich-
keit gibt es in der Tat niemals eine eigene Ganzheits- oder Geisteswissenschaft
und im Besondern auch keine eigene Ge- / schichte noch Geschichtsphilosophie.
Denn nicht nur sind Mechanismus und Ichheit grelle Widersprüche; sondern mit
der geschlossenen Naturursächlichkeit sind auch unentrinnbar die Erscheinungen
des Bewußtseins (das dann als „Komplikation“, als „Epiphänomen“ oder — am
richtigsten — als „Absonderung“ des Gehirnes erklärt wird) in die N a t u r
e i n b e z o g e n , und sind damit ebenso die Erscheinungen der Gesellschaft,
der Geschichte in die Natur einbezogen. Wäre aber Gesellschaft und Geschichte
Natur, dann müßte auch für sie das Erkenntnisideal der Laplaceschen Weltformel,
dessen Unvereinbarkeit mit der Geschichte sich früher zeigte, von unverbrüch-
licher Gültigkeit sein. Dann gäbe es auch keine nicht-naturwissenschaftliche Gei-
steswissenschaft. Die Seelenlehre, die Gesellschaftslehre, die Volkswirtschaftslehre,
mit diesen notwendig auch die Logik und Sittenlehre (Ethik) — sie alle wären
dann nur als Wissenschaften von Naturerscheinungen möglich.
Soll Geschichtsphilosophie möglich sein, dann muß eine Naturphilosophie mit
ihr bestehen, welche die geschlossene Naturursächlichkeit als nicht bestehend nach-
weist. Ein Hauptbegriff der Geschichtslogik ist der der g a n z h e i t l i c h e n
I n d i v i d u a l i t ä t o d e r S e l b s t h e i t (Persönlichkeit), das heißt der Selbst-
heit oder Ichheit, die als gegliederte Ganzheit in sich selbst gegliedert ist, und
die als Glied wieder selber auf die höhere Ganzheit bezogen ist. So ist jeder Staat
in sich selbst ein Gliederbau, daher eine Ganzheit und doch Glied eines Staaten-
netzes, einer überstaatlichen Ganzheit in irgendeiner Weise; so ist auch der ein-
zelne Mensch Glied von Ganzheiten — der Gezweiung, des Staates, der Kirche,
Familie — und doch eine in sich selbst gegliederte und auf sich (als Ich) bezogene
Ganzheit.
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Weiteres über Verfahrenlehre siehe unten S. 210 ff.