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tun alle ernsten Geschichtsschreiber aus Instinkt wie aus Notwen-
digkeit des Gegenstandes.
Wer bezweifelt, daß das Ganze oberster Gegenstand der Ge-
schichte ist, der möge doch bedenken, welch andre Welt der Ge-
schichtsschreiber vor sich hat, wenn er z. B. von Deutschland nach
dem Orient kommt. Eine „andere Welt“, eine andere Ganzheit ist
nun sein Gegenstand. Die Einzelnen sind gleichsam wie Ameisen, die
in einem Bau von andrer Art herumkrabbeln. Gewiß sind es auch
im Orient die einzelnen Herrscher, die einzelnen Menschen, die die-
ses andere Ganze ausmachen — aber sie sind Einzelne nur als Glie-
der a n d e r e r Ganzheiten, sind von anderer Gliedhaftigkeit.
(Wie weit der Mensch in höchsten Dingen, in Kunst, Wissenschaft,
Mystik über das B e s o n d e r e solcher Gliedhaftigkeiten hinaus-
kommt, ist eine andere Frage.)
Der größte Fehler, in den die Geschichtsbetrachtung verfallen
kann, ist, die Begebenheiten von den Einzelnen als solchen aus zu
sehen und die an den Einzelnen auftretenden Begebenheiten mit den
anderen Einzelnen auftretenden zu summieren. Dieser geschichtliche
Individualismus ist der Tod aller Geschichtsbetrachtung, er versperrt
die Möglichkeit, zu / sehen, was Geschichte ist. Er versperrt auch
die Möglichkeit, zu erkennen, was die tiefere Wahrheit der Vor-
gänge an jenen einzelnen Menschen war.
Möge man immerhin die Geschichte des Ganzen an den Ge-
schichten der Einzelnen erforschen, möge man sogar Lebensbeschrei-
bungen einzelner Helden, einzelner großer Männer in den Vorder-
grund rücken. Aber man möge nie vergessen, daß der Einzelne nur
in Gezweiung Geistesmensch ist, nur in Ganzheit aufnimmt und
hervorbringt. Das Hervorbringen des Geistgehaltes des Ganzen
durch den Einzelnen, die Umgliederung des Ganzen durch den Ein-
zelnen, das ist die geschichtliche Wahrheit. Die Gliedhaftigkeit des
Einzelnen gilt es zu verstehen, aufzudecken in der Geschichte. Der
Einzelne kann gar nicht übersehen werden. Wenn aber seine Glied-
haftigkeit festgehalten wird, dann sind es die geschichtlichen Ganz-
heiten, welche als die höchste und wahrste Ebene geschichtlichen Ge-
schehens erscheinen.
Daß sich durch den Wechsel der Personen hindurch, z. B. in
Fürstenhäusern und Staaten, ein geschichtliches Ganzes, ein ge-
schichtliches Überindividuelles erhält, wird nun verständlich. Denn