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gefühl“ der primitiven Religion
1
. „Die Spannung zwischen Welt-
angst und Selbstbehauptung des Ich, die Sehnsucht nach Erlösung“,
sagt Hauer, „müßten den Menschen aufreiben, wenn nicht in seiner
Seele Kräfte schlummerten, die ihn aus der Spannung zum erlösen-
den Erlebnis... führen würden“
2
. Gemeint sind damit die Jenseits-
vorstellungen, welche „die Menschen aus dem Zwange irdischer
Gegenwart zu erlösen“ und „aus dem dumpfen Leben eines Kamp-
fes ums bloße Dasein“ zu erheben haben
3
.
/
Das C h r i s t e n t u m ist so sehr Erlösungsreligion, daß christ-
liche Theologen behaupten konnten, in der Erlösung die ganze
Religion zu besitzen. Und während andere Religionen die Erlösung
noch zum Teil mehr oder weniger hedonistisch fassen mögen,
erscheint sie hier ihrem reinen Wesen nach als Tilgung aller Unvoll-
kommenheit durch Erhebung des eigenen Selbst und aller Dinge
zu Gott.
Das Befreiende, Erlösende, welches in der mystischen Erfahrung
liegt und von Weltangst heilt, drücken die Upanischaden und die
christliche Mystik auf gleiche Weise aus. In der Brihadaranyaka-
Upanischad (IV, 4) heißt es:
„Wer den Atman anschaute
als Gott unmittelbar in sich,
Herr des Vergang’nen und Zukünft’gen,
der ängstet sich vor keinem mehr.“
Eine ähnliche Unterweisung finden wir im Evangelium: „In der
Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt über-
wunden“
4
.
c. R e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e B e l e g e z u r K a t e g o r i e
d e s A b f a l l s
Zum Begriff des Abfalls eröffnete sich uns der Weg durch die
Erkenntnis, wie nichtig der mystischen Erfahrung das kreatürliche
Sein sei, sobald sie etwas vom göttlichen Sein verkostete. Gegen dieses
sinkt die vergängliche Sinnenwelt gleichsam zu einer bloßen Schein-
1
Jakob Wilhelm Hauer: Die Weltreligionen, Buch 1, S. 30.
2
Jakob Wilhelm Hauer: Die Weltreligionen, Buch 1, S. 33.
3
Jakob Wilhelm Hauer: Die Weltreligionen, Buch 1, S. 297.
4
Johannes 16, 33.