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123

Demgemäß finden wir in der Religionsgeschichte die verschieden-

sten Ausprägungen des Schicksalsbegriffes, aber die letzte Quelle

bleibt immer die mystische Erfahrung. Zum Beispiel schwankt das

Gottvertrauen (T a w a k k u l ) der sufistischen Mystik zwischen

bloßer Unvereinbarkeit ängstlicher Fürsorge für weltliche Dinge

und der völligen Abweisung aller menschlichen Tätigkeit dem unab-

änderlichen Fatum gegenüber

1

.

Dieses Extrem vermeidet die indische Mystik mindestens inso-

fern, als jene Tätigkeit ausgenommen wird, welche sich auf die

Erlangung mystischer Erleuchtung richtet. Denn nur diese führt zur

Einsicht, zur Erkenntnis. Durch die Lehre von der entscheidenden

Bedeutung der E r k e n n t n i s

2

wird sogar die Lehre vom blind

wirkenden K a r m a (Seelenwanderung) außer Kraft gesetzt. Dazu

kommt aber der großartige Begriff des R i t a (Rta) oder D h a r m a.

Rita oder Dharma ist jenes übergeordnete heilige Gesetz, welches

der Natur wie den Menschen ihre Wesensbetätigung vorschreibt und

an welches sich die Gottheit selbst bindet. Es ist das Gute, welches

Gott über / sich selbst vor Erschaffung der Welt setzt, wie die

Upanischad lehrt. Am genauesten scheint mir der Begriff des Rita

oder des Dharma begriffen, wenn man ihn als die, irdisches Ge-

schehen normierende I d e e n w e l t im platonischen Sinn auffaßt.

„Er (der Schöpfer) war noch nicht entfaltet; da schuf er über sich hinaus als

ein edler Gestaltetes (Idee) den Dharma. Dieser ist Herrscher des Herrschers ...

Daher auch der Schwächere gegen den Stärkeren seine Hoffnung setzt auf das

Recht, gleichwie auf einen König. Fürwahr, was dieses Recht ist, das ist Hie

Wahrheit (satyam, höhere Wirklichkeit)“

3

.

Der mystische Ursprung und die bewahrte Lebendigkeit des

Dharma und Ritabegriffes erweisen sich unseres Erachtens daran, daß

er die innere Freiheit des Menschen nicht ausschaltet, sondern das

Rita, obwohl mächtig, doch stets ein Sollen bleibt. „Der Mensch

kann und soll“, sagt Julius von Negelein, „das Rita verwirklichen,

indem er innerhalb der ihm gewiesenen Bahnen geht; der indische

Ausdruck dafür heißt: vratam car = gehen; vratam ist die vom

R i t a d e r b e l e b t e n u n d u n b e l e b t e n W e l t a u f -

1

Vgl. Christian Snouck-Hurgronje, in: Lehrbuch der Religionsgeschichte,

herausgegeben von Alfred Bertholet und Eduard Lehmann, Bd 1, 4. Aufl.,

Tübingen 1925, S. 746.

2

Vgl. oben S. 112.

3

Brihadâranyaka-Upanishad 1, 4, 14, deutsch von Paul Deussen.