196
[176/177]
fast überall, unter anderem in Griechenland. Sie sind aber nicht, wie
die Panbabylonisten meinen, aus Sumer-Babylon entlehnt, sondern
haben überall die gleiche Grundlage: die religiöse Kategorie der
Gottverwandtschaft des Menschen, gründend im mystischen Er-
leben.
Wenn allerdings andere, aber durchaus sekundäre Mythen den
Menschen von P f l a n z e n u n d T i e r e n , v o n O k e a n o
s , v o n d e r E r d e u n d S t e i n e n herleiten
1
, so sind das nur zum
Teil realistische Entartungen, zum Teil sind es exoterische Bilder.
In der germanischen Mythologie z. B. werden die Menschen aus
einer Esche gebildet, weil sie als Abbild der Weltesche, das ist als
Mikrokosmos erscheinen. Die Weltesche, Yggdrasil, die ihre Wurzeln
im Himmel, in der Ideenwelt, hat, ist der Makrokosmos, der Mensch
nach ihrem Inbegriff gebildet, der Mikrokosmos. Der aus der Esche
gebildete Mensch ist sonach nichts Geringeres als der Inbegriff der
Ideenwelt, welcher die Welt durchwaltet, der U r m e n s c h , z u -
g l e i c h W e l t s e e l e u n d g ö t t l i c h . — Andererseits kommt
in solchen Mythen eben jener Teil des menschlichen Wesens zur
Geltung, welchem vom Mystiker vor allem dessen Unvollkommen-
heit zugeschrieben wird, der leibliche. Ganz naturalistisch wird aber
auch dieser nicht behandelt, sondern es sind immerhin göttliche
Mächte, wenn auch die dunklen, chthonischen, mit denen der Mensch
hier verbunden er- / scheint. Gehört ja nach mystischer Lehre
— unter anderem in Platons Timaios und den Upanischaden
klar bezeugt — nur der höchste Teil des Menschen, der Nus, die
Vernunft, die unsterbliche Seele, der höchsten Gottheit an, der
niedere Teil dagegen, Begierde und Leidenschaft, dem Vergäng-
lichen, der Verbindung mit dem Körperlichen, daher Platons Lehre,
die gesunkenen Menschen verwandelten sich in Tiere, als welche sie
wiedergeboren werden, wohl wieder als eine Abspiegelung des
Mythos vom m a k r o k o s m i s c h e n M e n s c h e n zu verste-
hen ist; dieser liegt der Tier-, Pflanzen- und Erdenwelt zugrunde.
Die Mythen von den Erd-, Pflanzen- oder Tiergeburten des Men-
schen entsprechen daher immerhin zum Teil auch jenen mystischen,
1
Emil Seeliger: Artikel Weltschöpfung, in: Wilhelm Heinrich Roscher: Aus-
führliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd 6, Leipzig
1924—27, Sp. 493.