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schwemmen

1

. Welches grandiose Bild auch für die menschliche

Gesellschaft, wenn man sie universalistisch versteht! Sobald die

bildende Kraft des Ganzen nachläßt, muß die Gesellschaft chaotisch in

ihre Teile auseinandergehen. Dann gleichen diese Teile dem „άπεϊρον“

,

dem Unbestimmten, Bestimmungslosen, wie Anaximander das Chaos

bezeichnet. Auch in der lebendigen Gesellschaft ist das Chaos immer da,

aber es ist nur potentiell da — das macht, die Vielheit der Individuen

gleicht in der aufblühenden, in der wirklichen Vergemeinschaftung und

Ganzheit der

„πασπερμϊα“

,

dem Allkeimhaften des Anaxagoras, zu dem

jenes άπειρον umgebildet ist. Wodurch sind sie aber eine πανσπερμια

?

Durch die bildende Kraft des Ganzen, durch die unaufhörliche

Einwirkung des Ganzen, welches jede δΰναμις zur

ένέργεια

jede Potenz

zum Aktus bringt. /

Hierfür wie für die ganze große Wahrheit des Universalismus ist ein

Beispiel unsere Zeit. Wenn ordnende Ganzheit und fester

Zusammenhang verlorengehen, fällt die πανσπερμία in ein zurück, und

der hervorgrünende Frühling des Werdens geht unter im Chaos, im

gestaltlosen Urgemenge. Der Aufschrei der gequälten Kreatur hallt dann

durch die Geschichte. Diese Erscheinung könnte der Individualismus

gar nicht erklären, denn mit der Lockerung der Bindungen und der

Minderung an Vergemeinschaftung würde ja dem Individuum in seiner

geistigen Selbständigkeit und Vollendung nichts genommen werden,

άπεϊρον“, Chaos aber heißt eben, daß, weil jeder nicht in sich selbst

wurzelt (wie der Individualismus fälschlich glaubt), in einem

gemeinschaftslosen Zustande jede Abgestimmtheit und Ordnung der

Geister aufhört und eben dadurch außerdem auch jede Produktion von

Geistigkeit — dies ist der Grund, warum in anarchischen Zeiten so rasch

alles in Barbarei zurückfällt und warum überhaupt die höchsten Stufen

der Kulturentwicklung immer wieder (durch individualistische

Zeitwellen in der Geschichte) verlorengehen, um immer wieder neu

erobert werden zu müssen.

Hiermit sind die zwei großen Gedankenkreise, welche jede

Gesellschaftsauffassung

und

jede

Gesellschaftswissenschaft

beherrschen, gekennzeichnet. Ihre Erörterung war für unsere Zwecke

nur die Erledigung einer Vorfrage. Wir kommen nun zur eigentlichen

und z w e i t e n H a u p t f r a g e u n s e r e r U n t e r s u c h u n g :

1

Vgl. Otto Willmann: Geschichte des deutschen Idealismus, Bd 1, 2. Aufl.,

Braunschweig 1907, S. 70.