402
[356/35 7]
welche Gestalt die Volkswirtschaftslehre enter dem Einflusse
der individualistischen und der universalistischen Gesellschafts-
auffassung angenommen hat?
Wir betrachten zuerst
die naturrechtlich-individualistische Auffassung von
Ouesnay bis zu Ricardo.
Das Entstehen unserer Wissenschaft ist nicht das Werk deutschen,
sondern französischen und englischen Denkens. Zuerst war es Ques-
nay, dann waren es Adam Smith und Ricardo mit ihren Schülern,
welche die Volkswirtschaftslehre im 18. und 19. Jahrhundert auf-
bauten — aufbauten auf ganz bestimmten Grundfesten, den
Grundfesten des individualistisch-naturrechtlichen Denkens. Und
dieses müssen wir besonders hervorheben: daß unsere Wissenschaft
nicht aus rein sachlichen Untersuchungen ihres Gegenstandes heraus,
sondern durchaus auf Grund eines gesellschaftswissenschaftlichen
Gedankenkreises entstand.
/
Das Wesen des naturrechtlichen Denkens kennzeichnet am besten
jene Form, die es durch Hobbes erhielt: Ursprünglich sind die Menschen
in einem Zustande zu denken, in welchem kein Staat und Verband sie
bindet. Wie ist dieser Zustand bezeichnet? Durch Furcht aller
voreinander und durch regellosen Krieg aller gegen alle! Um nun diesem
unleidlichen Leben ein Ende zu machen, verzichten die Individuen auf
einen Teil ihrer Freiheitsrechte, schränken diese Freiheit insoferne ein
und stiften so durch einen Vertrag den Staat. „Staat“ ist also eine
Sicherheitsanstalt, ein Mittel zur Abgrenzung der Rechtsbereiche. Und
diese innerste Vertragsnatur wohnt notwendig jedem gesellschaftlichen
Gebilde inne — auch der Volkswirtschaft.
Quesnay hat nun zuerst die Grundsätze des Naturrechts auf die
Volkswirtschaft übertragen. Als das Wesentlichste liegt seinem
Gedanken folgendes zugrunde. Jeder Mensch hat (innerhalb des
gestifteten Grundvertrages) das natürliche Recht, sein Schicksal so
günstig wie möglich zu bestimmen — auch wirtschaftlich (nicht nur
etwa politisch); sodann: die Auswirkung dieses Rechtes, dieser Freiheit,
zu tun, was wirtschaftlich wünschenswert erscheint, bedeutet freie
Verfolgung des wirtschaftlichen Eigennutzes. Eine Volkswirtschaft
nun, in der das natürliche Recht des Eigennutzens herrscht, bildet einen
„ordre naturel“, eine natürliche Ordnung. Mit diesem „ordre naturel“ ist
nun ein unendlich wichtiger Begriff in die Wirt-