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duelle Sittlichkeit), a b e r k e i n e S o z i a l e t h i k (gesellschaftliche

Sittlichkeit). Überall wo / die Gesellschaft dem Einzelnen nur ein Umweg

zu sich selbst ist, kann der Einzelne zur Gesellschaft keinen anderen

Standpunkt als den der Nützlichkeit gewinnen. Gesellschaftliche

Verhaltensregeln zwar bestehen ja, aber sie sind nicht Ausdruck einer

Sittlichkeit, sondern nur einer Nützlichkeitsrechnung. Daß man den

Gesellschaftsvertrag einhalten, andere Menschen nicht umbringen soll

usw., das sind ja nur Gebote, die in Beziehung auf die gegenseitigen

äußeren Hilfeleistungen bestehen (welche die Gesellschaft ausmachen), es

sind Gebote des Nothaften, nicht der eigenen Geistigkeit, nicht eigener

Sittlichkeit. Denn das Sittliche muß aus dem inneren Gebote und Gesetze

des Geistigen kommen. Austausch äußerer Hilfen begründet keine

Sittlichkeit, sondern erschöpft sich in genauer Tausch-Rechnung — die

Grundlage der naturrechtlichen Vertragstreue.

Der Individualist kann allerdings aus anderen Gründen den Utilitarismus überwinden, z.

B. von einer metaphysischen, einer religiösen Sittenlehre her — aber stets nur t r o t z seiner

Gesellschaftsauffassung, niemals von der Zergliederung der Gesellschaft und des Einzelnen

als Gesellschaftswesen her!

Außer dem nothaften (militärischen) Standpunkte kommt noch die

Möglichkeit einer verwandten, nämlich psychologischen Begründung des

Verhältnisses zur Gesamtheit in Betracht.

Auch für den Individualisten ist nicht zu leugnen, daß es „ S y m p a t h i e g e f ü h l e “

gibt, Liebe, Haß, Mitleid, Mitfreude, die eigentlich schon mein Verhältnis zu den anderen

Menschen auf anderer Grundlage denn auf jener der bloßen Nützlichkeit bestimmen. Diese

Sympathiegefühle sind aber doch wieder unmöglich ein Inbegriff von Sittlichkeit, sondern

mehr zufällig bestimmte psychologische Tatsache, das heißt als eine Tatsache ohne innere

Notwendigkeit. Ob Liebe oder Haß, Mitleid oder Schadenfreude mein Verhalten bestimmen,

das liegt für mich, als einem sich selbst bestimmenden Einzelnen, ganz in meinem Befinden.

Diese G e f ü h l e sind, wir wiederholen es, nicht ein Inbegriff von Sittlichkeit, sondern von

Subjektivität, zufälliger Trieblage oder freier Entschließung, Willkür. Ich entscheide autark,

nicht moralisch. — Man begreife nun die Ablehnung der Moral bei den strengsten

Individualisten, wie Max Stirner und Friedrich Nietzsche! Das Verhältnis der freien Willkür,

nicht das der Verbindlichkeit, ist es, das den Einzelnen an die Allgemeinheit bindet. Oder

endlich: Dieses Psychologische (Empirisch-Zufällige) kann auch mehr als Triebhaftes,

Naturhaftes gedacht werden, das eben wieder aus der Sittlichkeit, die eine rein geistige,

innergesetzliche, notwendige Verbindlichkeit in sich schließt, herausfällt und willkürlich,

dunkel, chaotisch wird. Nur Nutzen und Trieb binden hier den Einzelnen an den andern.

Echte Sittlichkeit gibt es daher auf diesem Standpunkte nur im Geistigen des Einzelnen, nicht

zwischen den Einzelnen.