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III.
Die Vertragslehre
Die praktisch weitaus wichtigste Form des Individualismus ist indessen
die Theorie vom Staatsvertrag. Hier verzichten die Individuen um der
Ordnung, das heißt um der mechanischen Hilfeleistung willen, welche sie
einander hinsichtlich ihrer Sicherheit gewähren können und wollen, auf
Ausübung ihrer unbeschränkten Freiheitsrechte: so gründen sie den Staat.
Gesellschaftsstaat
=
gegenseitige
Handreichung,
gegenseitige
Hilfeleistung. Der Staat wird also hier weder verneint, wie vom
Anarchismus, noch als Herrschaftsausübung des Stärkeren erklärt,
sondern als reine Ordnungs- und Sicherheitseinrichtung. Er ist ein
Versicherungsverein / auf gegenseitigen Schutz, und die Prämie, die man
dafür zahlt, ist äußere Beschränkung unverletzlicher Freiheitsrechte.
Auch dieser Staat ist n i c h t e t h i s c h e r , sondern allein
z w e c k m ä ß i g e r ,
n u t z h a f t e r
( u t i l i t a r i s c h e r )
N a t u r . Es muß aber schon jetzt nachdrücklich betont werden, daß
alles, was über den Begriff der Ordnung nur um das mindeste hinausgeht
(z. B. Kulturaufgaben des Staates außer den Sicherheitsaufgaben),
unindividualistische
Gedankengänge
in
die
Vertragstheorie
hineinschmuggelt. Denn wenn die Gesellschaft auch Kulturaustausch und
Kulturschöpfung in sich schließen soll, wird schon aus Gegenseitigkeit,
aus dem Zusammenhang der Individuen ein eigenes, über sie
hinausgehendes Ganzes geschöpft und damit der individualistische
Standpunkt verlassen.
Die Vertragstheorie ist unter den individualistischen Staatstheorien die einzig praktische,
im geschichtlichen Leben überhaupt anwendbare. Schon die S o p h i s t e n im Altertum
hatten sie zum Teil vertreten. Mit der Naturrechtslehre des Althusius, Grotius, Hobbes,
Locke, Spinoza, der französischen Aufklärer, Samuel Pufendorfs und anderer wurde die
Staatstheorie die ganze Neuzeit hindurch auf individualistischer Grundlage errichtet. Als
besondere Formen der Vertragstheorien lassen sich kurz unterscheiden: der altgriechische
Sophismus, der neuere Physiokratismus und Smithianismus (mit manchen Vorbehalten), der
schroffere Ricardismus, endlich der Liberalismus, der als die praktische, staatspolitische
Folgerung jenes wirtschaftlichen Individualismus, wie er in den Theorien von Quesnay bis
Ricardo niedergelegt wurde, zu bezeichnen ist und dessen äußerste Form das sogenannte
„Manchestertum“ bildet.