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IV.
Die politischen Formen des naturrechtlichen Individualismus
insbesondere
In politischer Hinsicht sind zwei Hauptformen des Naturrechtes zu
unterscheiden: die Demokratie und der Liberalismus, der nichts anderes
als die konstitutionelle, monarchische Form der Demokratie ist
(Montesquieus Lehre von der Teilung der Gewalten). Die Frage zwischen
beiden ist nur, wie weit durch möglichst unmittelbare Volksherrschaft der
Schwerpunkt der Staatsregierung in die Gesamtheit der Bürger
zurückverlegt wird. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen beiden,
wie er vielfach
1
angenommen wird, besteht hingegen nicht. — Audi der
„aufgeklärte Absolutismus“ ist eine naturrechtlich begründete Staatsform
(Hobbes), da die Regierungsgrundsätze dabei individualistisch sind.
(Preußisches Landrecht der absolutistischen Zeit: die Ehe ein Vertrag;
Friedrich der Große: „Jeder soll nach seiner Facon selig werden.“)
/
Zwischen der französischen, englischen, schweizerischen Demokratie bestehen
Unterschiede. Die beiden letzteren haben in der Praxis ständische Einschläge.
Wägt man die drei Gruppen des Individualismus gegeneinander ab, so
ergibt sich, daß der Anarchismus nur scheinbar die absolute
Folgerichtigkeit der einzelheitlichen Gesellschaftserklärung ist. Denn
indem er in seiner reinsten Form (Stirner) jede Nützlichkeit der
Gesellschaft zurückweist und ihr gar nichts zu opfern bereit ist, wird er zu
vollständigem Nihilismus, ist also keine Erklärung, sondern nur noch eine
Verneinung der Gesellschaft. Die Vertragstheorie dagegen ist in diesem
Punkte (der Annahme der Nützlichkeit, welche die Gesellschaft gewährt)
zwar folgerichtig, jedoch ist ihr Grundbegriff des Urzustandes oder
Naturstandes, wie sich heraus- stellen wird, eine vollständig unmögliche
und
widerspruchsvolle
Vorstellung.
T h e o r e t i s c h
a m
f o l g e r i c h t i g s t e n i s t d e r M a c h i a v e l l i s m u s , indem er
das Nützliche der gegenseitigen Hilfe und Sicherheit anerkennt, dennoch
aber der Selbstherrlichkeit des Individuums keinerlei Abbruch tut.
Allerdings kommt dies nur dem Sieger zugute.
1
Vgl. zum Beispiel Wilhelm Hasbach: Die moderne Demokratie, 2
.
Aufl., Jena 1921.