F ü n f t e r A b s c h n i t t
Die Arten des Individualismus
Aus dem Wesen der individualistischen Lehre ergibt sich eindeutig der
Einteilungsgrund für ihre verschiedenen Arten. Er liegt im Verhältnis der
Einzelnen zueinander. Denn daß der Einzelne der einzig wirkliche
Bestandteil der Gesellschaft ist, darin stimmen alle Individualisten
überein. Nur das Verhältnis der Einzelnen zueinander kann strittig sein,
nur dessen Begründung, Wesenserklärung und Ordnung ist eine Aufgabe,
die verschieden gelöst wird.
Gegenüber der durch Dietzel üblich gewordenen Einteilung der
individualistischen Theorien in „Macht- und Rechtsdoktrinen“
1
mit ihrer
sittlichen (statt gesellschafts-theoretischen) Grundeinstellung möchte ich
drei grundsätzlich verschiedene Arten von Individualismus unterscheiden:
I.
den Anarchismus;
II.
die Herrschaftslehre oder den Machiavellismus;
III.
die Vertragslehre oder das Naturrecht; dazu kommen
IV.
die politischen Formen des naturrechtlichen Individualismus
insbesondere.
I. Der Anarchismus
Die reinste Form des Individualismus ist der Anarchismus (zu deutsch
„Herrschaftslosigkeit“). Als klassischer Vertreter darf Max Stirner
(Pseudonym Kaspar Schmid) gelten, dessen Hauptwerk schon im Namen
den Grundgedanken klar ausspricht: „Der Einzige und sein Eigentum“
2
.
Jeder Mensch ist ein „Einziger“. Der Grundsatz des Einzigen ist: „Mir geht
nichts über mich.“ Dieser Satz ist
1
Heinrich Dietzel: Individualismus, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4.
Aufl., Jena 1923, S. 408 ff.
2
Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum (1945), Leipzig 1928 (= Re-
clams-Universalbibliothek, Bd 3057—3060).