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„freundliche Gesinnung“, Liebesgesinnung. Diese ist aber kein allei-
niges Vorrecht der einen oder anderen Gesellschaftsauffassung. /
Beide, die individualistische wie die universalistische Auffassung
ermöglichen von ihren Sittlichkeitsbegriffen her die Freundesgesin-
nung der Bürger gegeneinander.
Dennoch bleibt auch hier eine Überlegenheit der ganzheitlichen
Auffassung zurück. Denn während diese die Forderung der Brüder-
lichkeit nicht von einer sittlichen Folgerung hernimmt, sondern
unausweichlich schon von dem Begriffe der Ganzheit her dazu kom-
men muß, da sie das Höchstmaß vollkommener Gezweiung aller
Menschen zu ihren obersten Grundsätzen zählt, so ist dagegen Brü-
derlichkeit beim Individualismus nur eine Möglichkeit, die sittlich
beansprucht werden kann, aber nicht muß, wie der Machiavellis-
mus und die ihm verwandte Form des Anarchismus zeigt.
V.
Vom Wesen des Rechtes
Individualistisch ist das Recht: möglichst geringe Störung der
Freiheit des Einen durch die Freiheit des Andern, daher ein Min-
destbegriff. Universalistisch ist dagegen die Freiheit des Einen Be-
dingung (nicht Störung!) der Freiheit des Andern, schöpferische
Bedingung, das Recht daher ein Meistbegriff, es ist seiner Natur
nach: die Regelung auf Grund des Höchstmaßes der Vergemein-
schaftung und in diesem Sinne ein Höchstmaß der Regelung
1
.
VI. Maß und Art der Staatsaufgaben
Über das individualistische Ideal der Staatsbetätigung ist nach
allem Bisherigen kein Zweifel: möglichst viel Freiheit (Autarkie)
und möglichst wenig Einschränkung für jeden. Mit andern Worten:
ein Mindestmaß der Staatsaufgaben entsprechend dem Höchstmaß
an Autarkie. Demgemäß hat sich der Staat, wie oben
2
schon aus-
geführt wurde, auf Sicherheit der Person, des Eigentums und ähn-
lich Unerläßliches zu beschränken, positive Aufgaben hat er nicht.
1
Weiteres über das Recht siehe unten viertes Buch, S. 572 ff.
2
Siehe S. 196.
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