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— aber in welch seltsamer Vermischung mit grellstem Irrtum!
„Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, kann, wenn
man es näher prüft, immer nur heißen: „Wir alle sind zuletzt doch
nur Menschen, Menschen, die alle gleich sehr verantwortlich sind
einem höchsten, sittlichen und göttlichen Gesetz“. Aber was liegt
in d i e s e r Gleichheit, die für hoch und niedrig, reich und arm,
groß und klein, Gültigkeit hat? Nicht mehr als: Daß Menschen-
würde allen zukommt, dem Verbrecher wie dem Heiligen, dem Ge-
nie wie dem Einfältigen. Gewiß, der Verbrecher, wie der Heilige,
beide sind Menschen, beide haben ein letztes, gleiches M i n d e s t -
m a ß v o n M e n s c h l i c h k e i t i n s i c h , einen unverletz-
lichen Kern „Mensch“; niemals aber heißt das: Sie seien gleiche Men-
schen, oder auch nur: Sie seien g l e i c h s e h r Menschen, denn der
Verbrecher ist weniger Mensch und mehr Tier, der Heilige weniger
Tier und mehr Mensch, ja Übermensch, eine sich über Menschliches
erhebende Geistigkeit. Im Verbrecher auch den Menschen zu achten
ist gut und recht; ihn aber gleich sehr zu achten wie den Heiligen
ist unrecht, ist widersinnig. S o l c h e G l e i c h h e i t w ü r d e
j a g e r a d e d i e M e n s c h e n w ü r d e v e r l e t z e n , jene
Würde, für die der Einzelne den Wert seiner eigensten und ganzen
Persönlichkeit erst einsetzen muß, die er mit seiner ganzen Kraft
erst erringen, sich erbilden muß. Niemals den Menschen zu verges-
sen, auch nicht dort, wo vieles von edler Menschlichkeit (in Ver-
brechern und tierischen Naturen) verlorenging, und in diesem
Mindestmaße sonach allen gleiche unverlierbare Menschlichkeit zu-
zuschreiben, ist wohl ein Gebot der Gerechtigkeit, ist Humanität
im wahren Sinne dieses Wortes; aber es heißt nicht: Allen gleich
hohe und edle Men- / schenwürde zuerkennen, es heißt mit einem
Worte nicht: Gleichheit!
Die Erfahrung zeigt überall die größte Ungleichheit in der geistigen Natur
der Menschen, in ihrem Charakter, in ihren gesellschaftlichen Verrichtungen, in
jedem Zeitabschnitte ihrer Entwicklung, in der beziehungsweisen wie in der
absoluten Höhe ihres Könnens und Wollens. Mutter und Kind, Lehrer und
Schüler, Meister und Lehrling, Forscher und Nachfolger, Künstler und Be-
trachter, Schauspieler und Zuhörer, Richter und Gerichtete, Ingenieur und
Arbeiter, Gute und Böse, Heilige und Laien, Weise und Banausen — alle diese
und unzählige andere Gegensätze, Abstufungen, Verhältnisse, Verrichtungen
der Ungleichen bauen und bilden die menschliche Gesellschaft, bilden den
Staat, die Wirtschaft, die Kunst, die Sittlichkeit, alle Lebensbeziehungen, alle
überindividuellen Lebensmächte. Überall sehen wir durch Ungleichheit, durch