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die gesellschaftliche Leistung der Religion zugleich eine s i t t l i c h e

wie eine r e c h t l i c h - s t a a t l i c h e . Das zeigte schon deutlich

die uralte Formel: Weltordnung = Festordnung = Rechtsordnung,

auf die wir schon früher stießen

1

. — Zugleich werden im Einzel-

nen die gottesdienstlichen Handlungen zu festen Sitten und Gebräu-

chen (man denke etwa an Kirchengang, Fasten, Tischgebet), welche

mit größter Zähigkeit oft auch dann Bestandteil des Lebens bleiben,

wenn ihr religiöser Sinn bereits verlorengegangen ist. —

Von besonderer Bedeutung ist das Leben führender religiöser

Menschen, besonders der Heiligen. Es ist die L e i s t u n g d e s

V o r b i l d e s , die die Religion hier übt. Volk und Laie fühlen

sich beglückt und befeuert in dem Bewußtsein, daß es ein gesammel-

teres, höheres Leben gibt als jenes, das sie selbst erreichen. Die

Gewißheit, daß das Hohe und Heilige i s t , wiegt mehr, als sich

Materialisten und Rationalisten träumen lassen, die das Dasein der

Heiligen nur damit bestimmt sein lassen wollen, daß sie Menschen

sind, die wirtschaftlich nichts leisten. — Die große Bedeutung des

religiösen Vorbildes erweist aber schon ein Blick auf die Geschichte.

Der heilige Franziskus, der heilige Bernhard, die deutschen Mysti-

ker gaben ihrer Zeit das Gepräge und haben Geschichte gemacht.

(Kreuzzüge, franziskanisches Armutsideal!)

Ist bei dieser Natur der gesellschaftlichen Leistungen der Religion

der Grundsatz „Religion ist Privatsache“, „jeder soll nach seiner

Facon selig werden“, durchaus gültig? Aus der sittlichen Bedeutung

der Religion allein schon ergibt sich, daß der Grundsatz „Religion

ist Privatsache“ streng genommen nicht richtig, ja nicht einmal

durchführbar ist. Was ü b e r d i e G o t t h e i t u n d d a s

G u t e g e g l a u b t w i r d , k a n n n i e m a l s P r i v a t s a c h e

b l e i b e n , s o n d e r n i s t h ö c h s t e ö f f e n t l i c h e A n -

g e l e g e n h e i t . Duldsamkeit ist eine schöne Sache, trifft aber

hier nicht das Wesentliche. Religion ist mindestens so wenig Privat-

sache als Gesellschaftsethik Privatsache ist. Unter so / eng verwand-

ten Bekenntnissen wie dem katholischen und protestantischen mit

g l e i c h e r S i t t e n l e h r e kann freilich dieser Grundsatz voll-

ständig gelten. Sehr leicht natürlich auch dann, wenn, wie heute,

die religiöse Gesinnung praktisch nur eine geringe Rolle spielt, oder

überhaupt verschwunden ist. Auch der beliebte Hinweis auf Indien,

1

Vgl. oben S. 409 f., siehe auch unten S. 449 und öfter.

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