420
[349/350J
wo die Bekenntnisse friedlich nebeneinander leben, beweist nichts.
Es hat in Indien „nicht nur zu allen Zeiten die vollkommenste Ge-
dankenfreiheit geherrscht“, sagt Garbe, „sondern die philosophi-
sche Spekulation hat sich auch... in einer Eintracht mit der Volks-
religion befunden, wie sie auf Erden nicht wieder.. . bestanden
hat. Nur ein Zugeständnis verlangte die Brahmanenkaste: die An-
erkennung ihrer Vorrechte und die Unfehlbarkeit des Veda.“
1
In
der Übereinstimmung der Religion mit der höchsten Bildung, der
Philosophie, liegt eben jene sittliche und theoretische Vorbedingung
für die vollkommene Religionsfreiheit, die bei uns heute fehlt
2
.
Auf den Begriff der T h e o k r a t i e u n d d e s G o t t e s s t a a t e s hier
einzugehen, fehlt leider der Raum
3
.
E. Die G e s e l l s c h a f t l i c h k e i t d e r R e l i g i o n
Das Verhältnis von Abgeschiedenheit und Gezweiung ist es, das
hier in Frage steht. Wir verweisen dafür auf frühere Zusammen-
hänge
4
.
Das Wesen der Religion wurzelt in der Abgeschiedenheit, sie ist Gottes-
gemeinschaft. Zwar kann die religiöse Gemeinschaft als Gottesgemeinschaft
niemals selbst zur kongregalen Gemeinschaft (das heißt zur unmittelbaren Ge-
meinschaft zwischen Menschen) werden, weil Religion eben das Verhältnis des
Einzelnen zum Übersinnlichen u n m i t t e l b a r ist. Der von den Einzelnen
erlebte Inhalt der Gottesgemeinschaft aber reflektiert sich, verstärkt sich, bildet
sich um im gegenseitigen Wissen voneinander.
Was in der Wissenschaft der erste Bildner von Gedanken, in der Kunst der
schaffende Künstler, das ist in der Religion der R e l i g i o n s s t i f t e r , d e r
P r o p h e t , d e r H e i l i g e . Seine Erlebnisse beherrschen das Erlebnis der
andern, es wird ihnen die feste Bahn, die ihr Geist fortan wandelt. Feste Lehren
und Kulte entsprechen den Erlebnissen als Ausdruck und Symbol. Dieser Ver-
gemeinschaftungsvorgang ist die Grundlage für die Bildung der „religiösen
Gemeinde“, welche zwar zunächst nur geistige Gemeinschaft ist, später aber
von selbst zur Verantwortung drängt, weil die dogmatische Lehre wie die Riten
des Kultes eine Verstetigung für sich und für die zugrundliegenden geistigen /
Inhalte gebieterisch fordern, was, wie oben dargestellt, schließlich in der hierar-
chischen Kirche ihren stärksten Ausdruck und Gipfel findet.
1
Richard Garbe: Die Samkhya-Philosophie, 2. Aufl., Leipzig 1917, S. 143.
2
Über die Vorrangverhältnisse siehe unten S. 426 ff.; über die Beziehungen
der Religion zur Kunst oben S. 374.
3
Vgl. dazu die Bemerkungen oben S. 37, 236 ff., 250 und 410.
4
Vgl. oben S. 230 f., 236 ff. und 228 f.; über die communio sanctorum siehe
oben S. 229 f.