V i e r t e r A b s c h n i t t
Die Philosophie
Die Philosophie pflegt nach empiristischer Auffassung als „Ver-
einheitlichung aller Einzelwissenschaften“ gefaßt zu werden. Dann
müßte ihr Inhalt mit dem Stande unserer wissenschaftlichen Kennt-
nisse wechseln. Das ist aber nicht der Fall. Philosophie hat vielmehr
nach nicht-empiristischer Auffassung wie ihre eigene Denkaufgabe,
so auch ihren eigenen Gegenstand, und ihre Erkenntnismittel
s i n d u n a b h ä n g i g v o n b e s t i m m t e n i n d u k t i v e n
K e n n t n i s s e n . Philosophie ist im nicht-empiristischen Sinne
stets Metaphysik, Weltanschauung.
Auch Kant hat nur den „Schulbegriff“ der Philosophie als Begriffswissen-
schaft, als immanente Einheit der Erkenntnis gefaßt (was diejenigen übersehen,
die sich für eine Auffassung der Philosophie als Vereinheitlichung der jeweiligen
Wissenschaften auf Kant stützen wollen). Ihr eigentliches Wesen sah er darin, /
daß sie die „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesent-
lichen Zwecke der menschlichen Vernunft ist“
1
.
Ein anderer weitverbreiteter Irrtum ist dieser: Philosophie sei gerade als
Weltanschauung subjektiv, nur als Erkenntnistheorie sei sie objektive Wissen-
schaft. Dagegen bestimmt schon Aristoteles die Philosophie als die Wissen-
schaft, „die das Seiende als Seiendes und die demselben an und für sich zu-
kommenden Bestimmungen betrachtet“, als eine rein objektive Wissenschaft
2
!
In anderer Weise sagt Hegel dasselbe: „Die Philosophie ist nicht Weisheit der
Welt, sondern Erkenntnis des Nichtweltlichen, nicht Erkenntnis der äußerlichen
Masse, des empirischen Daseins ..., sondern Erkenntnis dessen, was ewig ist, was
Gott ist und aus seiner Natur fließt.“
3
Schelling: „Philosophie ist die auf
das Prinzip gehende Wissenschaft“
4
, „Wissenschaft des Urwissens“, „Wissen-
schaft der Ideen“
5
.
1
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781, S. 633; vgl. auch:
Logik, ein Handbuch für Vorlesungen, Königsberg 1800, S. 25 und öfter.
2
Aristoteles: Metaphysik, ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson, Jena
1907, IV. Buch (T), r, 1003a, S. 58, vgl. auch XI. Buch (K), 3, 1061a, S. 214.
3
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Religionsphilosophie, in gekürzter Form,
herausgegeben und erläutert von Arthur Drews, Jena 1905, S. 6.
4
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämtliche Werke, Abteilung II, Bd 1:
Einleitung zu der Philosophie der Mythologie, Stuttgart 1856, S. 367.
5
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämtliche Werke, Abteilung I, Bd 3:
Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, Stuttgart 1859, S. 255.