S e c h s t e r A b s c h n i t t
Das Vollkommene ist früher als das Unvollkommene —
oder das Verhältnis von Sein und Sollen
Schon bei Kant werden die theoretische und die praktische Ver-
nunft voneinander in einer solchen Weise unterschieden, daß sie wie
zwei selbständige Vermögen auseinandergerissen erscheinen.
Mit der Trennung des theoretischen und praktischen Vermögens
sind auch Sein und Sollen voneinander scharf getrennt, und zwar das
Sein sowohl objektiv wie als Wissen gefaßt und ebenso das Sollen,
welches nicht nur das vom Menschen Gesollte, zu Tuende, sondern
auch das den Dingen idealerweise Zukommende, das ästhetische und
logische Soll, in sich schließt.
Die neukantische Schule hat, indem sie diesen Gegensatz von Sein
und Sollen in der Verfahrenlehre in bisher unbekannter Schärfe
ausbildete, die Frage des Verhältnisses von Sein und Sollen dahin
beantwortet, daß von einer Verbindung beider im Gegenstande
einer Wissenschaft keine Rede sein könne und noch weniger onto-
logisch, das heißt im Seienden.
Rein verfahrenkundlich gesehen, erschien dieser Gegensatz als unüberbrückbar.
Wird zum Beispiel die Erde als rein physikalisches Sein, das ist als Planet,
betrachtet, so ergibt sich ihre Stellung zur Sonne als nach dem Newtonschen
Gravitationsgesetz bestimmt, ebenso ihre Umdrehung um die eigene Achse und
die Abplattung der Pole als die festzustellenden und zu erklärenden Erschei-
nungen. Von einem Sollen ist hier keine Rede, nur von einer Ordnung des
Seins nach ursächlichen Bestimmungen. Noch ein anderes Beispiel: Werden Ge-
dächtnis und Gedankenabläufe des Menschen experimentell / geprüft, so er-
geben sich gewisse Einsichten, vielleicht ähnlich wie sie die „Assoziationsgesetze“
darstellen. Einsichten über das, was ist, nicht was sein soll.
Es ist eine ganz andere Blickrichtung, welche der Geist einschlägt, eine andere
Ebene, die er aufsucht, wenn er die Erde als das zum Beispiel im Schöpfungsplan
Gesollte betrachtet und die Umdrehungserscheinung als das, was Tag und Nacht,
im Sinne dieses Planes geordnet, sein s o l l ; und ebenso, wenn er nun jene
assoziativ bestimmten Gedankenabläufe als logisch richtig oder unrichtig unter-
sucht, das heißt sie an dem Normensystem der Logik als gesollte oder nicht ge-
sollte beurteilt.
Zwischen Sein und Sollen führt hier keine Brücke, Sein und Sollen können