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nie Zusammenkommen, die Erfahrungselemente als das Wirkliche, Seiende und
die Erfahrungselemente als Gesolltes, als Wert, werden auf ganz anderer Ebene,
nach ganz anderen Richtmaßen (den Werten, Zwecken) von unserem Geiste
geordnet. Die Erde als wirklich und die Erde als metaphysisch-sittlicher Wert;
das Denken als wirklich und als logisch-normativer Wert, das heißt als wirklich
und als richtig, als seiend und als gesollt — das sind zwei verschiedene Welten!
So die neukantische Theorie.
Die aus der Verfahrenfrage entspringende Trennung von Sein und Sollen
bedingt also, wie diese letztere Überlegung zeigt, sofort ontologische Folgerun-
gen, welche die neukantische Schule zu ziehen nicht gezögert hat. Sein, im kau-
salen Sinne, und Sollen, im Sinne irgendeines Normengebäudes, sei es des Sitt-
lichen, sei es des Logischen, des Ästhetischen, sind nun als ontologische Größen
gefaßt unvereinbar und müssen ewig getrennt bleiben.
Das Sollen oder Gelten und das ursächliche, bestimmte, wirkliche
„Sein“ bleiben zwei verschiedene Welten!
Im Gegenstande jener Wissenschaften nun, bei denen Sein und
Sollen in Frage kommen, hat diese Spaltung notwendig die schwer-
sten Folgen, so namentlich in der neukantischen Schule der Rechts-
wissenschaft. Sie erklärt: Nachdem die durch das rechtliche Sollen
bezeichnete Verknüpfung der Elemente eine grundsätzlich anders-
artige ist als die durch das Natursein begründete ursächliche, so ist
auch aus dem Sollen jede Beziehung auf die Verwirklichung (Reali-
sierung) ausgeschlossen
1
. (Eine solche Verwirklichung wäre nach
herkömmlicher Vorstellung der Staat, wenn man ihn als die durch
Zwang das Recht durchsetzende oder realisierende Macht auffaßt.)
Das Sollen ist einer Verwirklichung, einer „Überführung aus seiner
ureigensten Sphäre in die des Seins weder bedürftig noch...
fähig“
2
. — Die Folge dieser / Haltung ist die Vereinerleiung von
Recht und Staat, auf die wir früher stießen
3
.
Um den Gegensatz von Sein und Sollen, der für diese Auffassung schlechthin
unüberbrückbar ist, zu überwinden, verfiel man auf die sonderbare, wie ein
Fastnachtscherz anmutende Idee der sogenannten „Als-Ob-Betrachtung“, nach
welcher die normativen Gesetze nicht tatsächlich im Wirklichen fundiert sind,
sondern nur als „Fiktionen“ angewendet werden können!
1
Ähnlich Hermann Cohen: System der Philosophie, 3 Bde, Bd 2: Ethik
des reinen Willens, 3. Aufl., Berlin 1921, S. 23: Die methodische Reihenfolge
sei: „Sein und Sollen“, nicht „Sollen und Sein“ — das würde in der Sprache
unserer Formel heißen: das S e i n i s t l o g i s c h f r ü h e r a l s d a s
S o l l e n ! — S. 27 f.: „Das Sollen ist die Gesetzmäßigkeit, normative Bestimmt-
heit des Wollens, ein anderes Sein hat es nicht, das heißt es hat k e i n S e i n . “
2
Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, ... S. 79.
3
Siehe oben S. 519 f.