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Eben dieses Bewußtsein der Rückverbundenheit in Gott bleibt
aber kein Abstraktum. Es ergreift den Menschen, es durchdringt
ihn, wandelt ihn im Innersten um. Die Frucht ist die Gewißheit
vollkommenen A u f g e h o b e n s e i n s des Menschen in Gott.
In diesem Bewußtsein der Rückverbundenheit, konkretisiert zur
Aufgehobenheit in Gott, liegt indessen schon etwas von einer Fol-
gerung, Deutung, begrifflichen Bestimmung, welche dem Grund-
gehalt des überall gleichen Urerlebnisses mystischer Befaßtheit hin-
zugefügt wird. Daher kann dabei der eigene freie Wille mehr oder
weniger lebendig mitgedacht werden, oder die Aufgehobenheit
kann sich mehr oder weniger dem Begriff der E r g e b e n h e i t in
das Unabänderliche (Islam) nähern, wodurch sie zuletzt im Begriff
des blinden F a t u m s endet. Damit hat sie sich jedoch vom mysti-
schen Ausgangspunkt schon entfernt; ebenso wenn sie sogar zum
Begriff einer, den freien Willen ausschließenden P r ä d e s t i n a -
t i o n oder Vorherbestimmung fortgeht. /
Das mystische Bewußtsein der Geborgenheit und Aufgehobenheit
in Gott birgt bei tieferem Durchdenken die Frage in sich, wie sich
dieses Aufgehobensein und die eigene Tätigkeit, anders gesagt, wie
sich g ö t t l i c h e G n a d e u n d m e n s c h l i c h e W i l l e n s -
f r e i h e i t , Schicksal und eigenes Handeln, zueinander verhalten.
Wie immer im einzelnen diese Frage gelöst werde — Franz von
Baader legte darüber in seinen „Vorlesungen über spekulative Dog-
matik“ tiefdringende Untersuchungen vor
1
— soll das mystische
Bewußtsein dabei erhalten bleiben, so darf der eigene Wille nicht
völlig ausgeschaltet werden. Ist ja schon die Hingabe an den gött-
lichen Einfluß selber ein Willensakt, eine innere Tätigkeit.
Soviel ist gewiß, daß die Begriffe einer völlig determinierenden
Prädestination, des Fatums, des unabänderlichen Schicksals, weil sie
jede eigene Willensbetätigung ausschalten, den m y s t i s c h e n
Grund der Frömmigkeit verlieren, ja sogar das Verhältnis zu einem
persönlichen Gott verschütten, da ja letzteres gerade darin besteht,
daß der Mensch eine gewisse Freitätigkeit seinem Schöpfer gegen-
über behalte.
1
Franz von Baader: Sämtliche Werke, Bd 8, Leipzig 1851—1860, S. 106 ff.,
115 ff. und öfter.