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Demgemäß finden wir in der Religionsgeschichte die verschieden-
sten Ausprägungen des Schicksalsbegriffes, aber die letzte Quelle
bleibt immer die mystische Erfahrung. Zum Beispiel schwankt das
Gottvertrauen (T a w a k k u l ) der sufistischen Mystik zwischen
bloßer Unvereinbarkeit ängstlicher Fürsorge für weltliche Dinge
und der völligen Abweisung aller menschlichen Tätigkeit dem unab-
änderlichen Fatum gegenüber
1
.
Dieses Extrem vermeidet die indische Mystik mindestens inso-
fern, als jene Tätigkeit ausgenommen wird, welche sich auf die
Erlangung mystischer Erleuchtung richtet. Denn nur diese führt zur
Einsicht, zur Erkenntnis. Durch die Lehre von der entscheidenden
Bedeutung der E r k e n n t n i s
2
wird sogar die Lehre vom blind
wirkenden K a r m a (Seelenwanderung) außer Kraft gesetzt. Dazu
kommt aber der großartige Begriff des R i t a (Rta) oder D h a r m a.
Rita oder Dharma ist jenes übergeordnete heilige Gesetz, welches
der Natur wie den Menschen ihre Wesensbetätigung vorschreibt und
an welches sich die Gottheit selbst bindet. Es ist das Gute, welches
Gott über / sich selbst vor Erschaffung der Welt setzt, wie die
Upanischad lehrt. Am genauesten scheint mir der Begriff des Rita
oder des Dharma begriffen, wenn man ihn als die, irdisches Ge-
schehen normierende I d e e n w e l t im platonischen Sinn auffaßt.
„Er (der Schöpfer) war noch nicht entfaltet; da schuf er über sich hinaus als
ein edler Gestaltetes (Idee) den Dharma. Dieser ist Herrscher des Herrschers ...
Daher auch der Schwächere gegen den Stärkeren seine Hoffnung setzt auf das
Recht, gleichwie auf einen König. Fürwahr, was dieses Recht ist, das ist Hie
Wahrheit (satyam, höhere Wirklichkeit)“
3
.
Der mystische Ursprung und die bewahrte Lebendigkeit des
Dharma und Ritabegriffes erweisen sich unseres Erachtens daran, daß
er die innere Freiheit des Menschen nicht ausschaltet, sondern das
Rita, obwohl mächtig, doch stets ein Sollen bleibt. „Der Mensch
kann und soll“, sagt Julius von Negelein, „das Rita verwirklichen,
indem er innerhalb der ihm gewiesenen Bahnen geht; der indische
Ausdruck dafür heißt: vratam car = gehen; vratam ist die vom
R i t a d e r b e l e b t e n u n d u n b e l e b t e n W e l t a u f -
1
Vgl. Christian Snouck-Hurgronje, in: Lehrbuch der Religionsgeschichte,
herausgegeben von Alfred Bertholet und Eduard Lehmann, Bd 1, 4. Aufl.,
Tübingen 1925, S. 746.
2
Vgl. oben S. 112.
3
Brihadâranyaka-Upanishad 1, 4, 14, deutsch von Paul Deussen.