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Das Bewußtsein vom Wesen seines eigenen Geistes wird nun
nicht mehr allein durch die Einheit mit Gott bestimmt, sondern
die geistig-seelischen Vermögen und Tätigkeiten treten mehr für
sich hervor, sie werden mehr und mehr als verselbständigte Teil-
vermögen, Teilmächte empfunden; und der Natur gegenüber wird
nunmehr der in allen Dingen wirkende göttliche Seinsgrund, wel-
cher früher als Einheit erschien, ebenfalls als in verhältnismäßig
selbständige Teilmächte zertrennt empfunden.
Dadurch, daß nunmehr die Teilmächte des menschlichen Geistes
je für sich göttlichen Einwirkungen zugeordnet werden und daß
die göttliche Weltwirksamkeit ebenfalls in einzelne Teilmächte der
Natur zerstreut empfunden wird, entstehen im menschlichen Be-
wußtsein die h o h e n G ö t t e r .
Eine neue Weltenstunde schlägt, die Vielgötterei wird geboren.
Nun versteht man es, warum der höhere Polytheismus stets eine
monotheistische Grundlage haben müsse. In den edleren Schichten
der heidnischen Religionen zeigen sich darum überall die hohen
Götter zuletzt nicht als selbständige Wesen, vielmehr nur als Teil-
mächte, Agentien, Manifestationen oder Teil-Emanationen der
e i n e n Gottheit. So in den Veden und Upanischaden
1
, so auch
in der Homerischen Religion, welcher trotz ihrer Naturbefangen-
heit der oberste Gott, Zeus, stets der „Vater der Götter und Men-
schen“ bleibt, wodurch also die Götter als Sprößlinge, Agentien,
Potenzen des obersten Gottes erscheinen. Und wenn dies auch im
Bild der Zeugung ausgedrückt wird, so bleibt die fortdauernde Ab-
hängigkeit, richtige Befaßtheit der Erzeugten im Erzeuger dennoch
außer allem Zweifel.
Dieser Abstieg vom rein mystischen zu einem mehr und mehr
naturalistischen Verhältnis des Menschen zu Geist und Welt hat
aber noch eine andere, ganz wesentliche Seite: die im mystischen
Bewußtsein grundsätzlich und l a t e n t enthaltenen magischen
Kräfte des Menschen werden durch die andere Richtung, die nun
der Geist nimmt, frei: an die Stelle der alleinigen Zentriertheit in
Gott tritt die teilweise oder vorwiegende Zentrierung auf die gei-
stige wie natürliche Welt; und d a d u r c h t r i t t a n d i e
S t e l l e d e s a u s s c h l i e ß l i c h m y s t i s c h e n V e r h ä l t - /
1
Worüber Belege beizubringen später Gelegenheit ist, siehe unten S. 209 f.