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nehmlich des Stufenbaues und der vielfachen Gliedhaftigkeit
1
. Da-
durch werden weitere Einsichten in die Besonderung der Mythen
gewonnen.
Z u s a t z ü b e r d i e n a t u r a l i s t i s c h e n T h e o r i e n d e r
M y t h e n b i l d u n g
Aus allem Gesagten ergibt sich auch das Irrtümliche der bisherigen naturali-
stischen Theorien, von denen wir nur erwähnen: die Auslese / theorie, die Zu-
rückführung aller Gottheiten auf naturhafte, besonders meteorologische Erschei-
nungen und die Theorie von dem einen, einzigen Urmythos.
(a)
Die Auslesetheorie setzt das, was sie erklären soll, die Mythen, voraus. Und
im besonderen: Nicht, wie sie behauptet, durch Auslese gehen aus den niederen
Göttern oder aus den Gau- und Stammesgöttern, die hohen Götter hervor; viel-
mehr ist die Richtung umgekehrt: indem sich der Mensch von dem einen Ur-
grund entfernt, sich an das Nächsthöhere, an das in der Welt Wirkende, daher ge-
gliedert, g e t e i l t Erscheinende hält und dieses nach den mystischen Kategorien
auffaßt, entsteht die Unterscheidung göttlicher Mächte — zuerst der hohen Göt-
ter. N i c h t v o n u n t e n h i n a u f , s o n d e r n v o n o b e n h e r a b g e h t
d e r W e g z u d e n h o h e n G ö t t e r n !
(b)
Die Mythen entstehen auch nicht primär als meteorologische oder andere
Naturmythen, wie gezeigt. Daß alle Mythen Naturmythen seien, war früher eine
allgemeine Annahme
1
, die aber als undurchführbar aufgegeben werden mußte —
obgleich dies nur formell geschah und diese Annahme in Wahrheit auch heute
noch fortbesteht und herrscht, weil dem Empirismus ein anderer Weg einfach
nicht zur Verfügung steht. — Die Panbabylonisten schränkten die ursprünglich
als allgemeine Naturgottheiten gedachten auf Gestirngottheiten ein (Astralmytho-
logie). Das ist noch falscher. Denn eine reine Astralmythologie gab es nie
3
. Zu
den Astralmythologen ist auch Leo Frobenius zu zählen.
(c)
Endlich gibt es auch nicht nur einen einzigen Urmythos, den der Erlöser-
erwartung, wie Alfred Jeremias, der Panbabylonist, sagt: „Es gibt nur e i n e n
Mythos, der in Sumer zuerst nachweisbar und wohl dort entstanden ist... Wir
stehen nicht an zu sagen: Er ist der T r ä g e r e i n e r O f f e n b a r u n g .
Dieser Mythos ist die Erzählung eines imaginativ am gestirnten Himmel geschau-
ten Vorganges in einer Reihe gleichmäßig verlaufender Geschehnisse, die man
M o t i v e nennt... Sie laufen als kosmische Vorgänge mit einer im Kreislauf
des Geschehens sich offenbarenden Heilserwatung parallel. .. Die Motive (des Ur-
mythos in Sumer) sind die folgenden:
1.
Die himmlische Urmutter, die in Sumer dem Urgrunde der Dinge näher
steht, als die gesamte Welt göttlicher Geistwesen, die in den kosmischen Erschei-
nungen sich offenbaren, gebiert jungfräulich (sie ist grundsätzlich mannweiblich
vorgestellt) das geheimnisvolle Kind.
2.
Das Kindheitsgeschick spiegelt das künftige Geschehen wider: Aussetzung,
Rettung, Hervortreten im Mysterienalter.
1
Siehe unten S. 204 ff.
2
Friedrich Max Müller und andere.
3
Siehe unten S. 264.