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rung und der Materialismus ihren Widerspruch erhoben — erst
seither begann jene innere Gefährdung, ja Zersetzung der Religion,
später auch der europäischen Gesellschaft und Wirtschaft, welche
schließlich 1789 zur gewaltsamsten aller Katastrophen führte.
Von da an herrscht in Europa fast ständige Revolution.
Auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gebieten ließe sich
zwar eine Milderung erhoffen, denn zwei Menschenalter kräftiger
Sozialpolitik liegen hinter uns und eine fruchtbare Organisierung
der Wirtschaft nach Art von Berufsständen zeigt bereits überall ihre
hoffnungsvollen Ansätze; auf geistigem Gebiet jedoch, dort, wo die
letzte Entscheidung fällt, ist von seiten jener Mächte noch immer
kein Stillstand abzusehen.
Die Zersetzung geht weiter! Denn da die Verneinung aus sich
selbst nichts Aufbauendes zustande bringen kann, kann sie auch
kein Ende finden; und obwohl über das, was wir erlebten hinaus
noch größere Verneinungen kaum zu denken sind, müßte es doch
zu immer weiteren Katastrophen kommen, falls dieser Prozeß sich
selbst überlassen bliebe. Wo an die Stelle eines von einer höheren
Kraft genährten geistigen Lebens einmal der sich selbst überlassene,
egoistische blinde Wille trat, kann nur immer weiter zerstört wer-
den. Seine Auswirkungen erkannte schon Goethe, als er im Motto
zu „Des Epimenides Erwachen“ mit wahrem Tiefblick sagte:
„Den Frieden kann das Wollen nicht bereiten;
Wer Alles will, will sich vor Allen mächtig,
Indem er siegt, lehrt er die andern streiten;
Bedenkend macht er seinen Feind bedächtig;
So wachsen Kraft und List nach allen Seiten,
Der Weltkreis ruht von Ungeheuern trächtig,
Und der Geburten zahlenlose Plage
Droht jeden Tag als mit dem jüngsten Tage.“
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Das war am Beispiel Napoleons gesagt. Seither wiederholten sich
die Napoleone — und in welch verschlechterten Ausmaßen!
Wodurch anders könnte eine innere Wendung erfolgen, als zuletzt
durch eine Wiederherstellung der religiösen Wahrheiten des Chri-
stentums?
Schon Schelling und Hegel waren es, welche sie auf n e u e n
Wegen versuchten, nachdem Fichte und Schleiermacher voran-
gegangen waren.