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sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schim-
mert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen.“ Er begründete
dies von seinem Grundsatz aus „Was fruchtbar ist — Allein ist
wahr“ und erblickte das Wesentliche des Christentums in seiner sitt-
lichen Bewährung. Wir können ihm darin insofern folgen, als wir
die kategorialen Grundlagen dieser Bewährung kennen. In den „Wan-
derjahren“
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entwickelte Goethe die bekannte Lehre von den drei
Ehrfurchten: der Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, vor dem, was
uns gleich ist, dem Menschen, und vor dem was unter uns ist. Auf
letztere ist ihm die c h r i s t l i c h e R e l i g i o n vornehmlich ge-
gründet „weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offen-
bart; es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte.. .
Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu
lassen und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern
auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und
Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst
und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des
Heiligen zu verehren und liebzugewinnen! Hievon finden sich frei-
lich Spuren durch alle Zeiten; aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses
einmal erreicht ist, so kann die Menschheit nicht wieder zurück, und
man darf sagen, daß die christliche Religion, da sie einmal erschienen
ist, nicht wieder verschwinden kann, da sie sich einmal göttlich ver-
körpert hat, nicht wieder aufgelöst werden mag.“
VI.
Christentum und Gegenwart
Neben den glänzenden Leistungen gab es in der Christenheit und
in der Kirche auch Gebrechen von Anbeginn. Besonders / schrecklich
traten sie im 10. Jahrhundert, im ausgehenden Mittelalter, in einigen
Renaissancepäpsten, im Inquisitions- und Hexenwahn zutage. Den-
noch schwächten sie das Glaubensleben nicht in seiner Wurzel.
Erst seit neue, weltanschauliche Richtungen, der Nominalismus,
die Renaissance und der Humanismus aufkamen und in der Folge
jede religiöse Wahrheit in Zweifel zogen, seit vollends die mechani-
stische Naturerklärung, die empiristische Philosophie, die Aufklä-
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Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Stuttgart
1821, II, 1.