406
[371/372]
H e g e l suchte durch seine „Religionsphilosophie“ das Chri-
stentum wieder in seine Rechte einzusetzen. Er wollte dem Chri-
stentum seine Stelle im dialektischen Fortgang der Weltgeschichte
anweisen, indem er die höchste Geistesstufe, die Philosophie, nur
als die gedankliche Durchdringung und Bewußtwerdung der Reli-
gion erklärte. S c h e l l i n g drang noch tiefer, indem er die ge-
samte Religionsgeschichte auf eine transzendente Geschichte zu
gründen suchte, dadurch in seiner „Philosophie der Mythologie und
Offenbarung“ ein „begriffenes Christentum“ schaffen und, wie schon
vor ihm F i c h t e u n d S c h l e i e r m a c h e r , die Zukunft dem
mystischen Evangelium Johannis überweisen wollte. Auch B a a -
d e r gesellte sich zu diesen heldenhaften Streitern, desgleichen die
gesamte R o m a n t i k .
Alle diese gewaltigen Versuche liegen inzwischen im Schutt der
Zeit vergraben. Denn nicht einmal die Theologie beider Bekennt-
nisse zeigte Kraft genug, von ihnen dauernden Nutzen zu ziehen,
geschweige denn die übrigen Gebiete des geistigen Lebens.
Unser Versuch einer Religionsphilosophie ist bescheidener. Er ist
aus der Problematik der Zeit erwachsen, will den Gegner im eigenen
Lager, der Historie, aufsuchen, überall die Fühlung mit der neu-
zeitlichen Bildung halten und die Zugänge zur Religion durch Rück-
gang auf ihre ewigen Quellen freilegen.
Die Religion muß wieder zur L e b e n s m a c h t werden, welche
allein den trostlosen Nihilismus, der sich seit langem über das Abend-
land legt, besiegen kann. Dem Wesen der Sache nach muß dies jede
Religion leisten, kraft der Vollkommenheit seiner Kategorien ver-
mag es keine so gut wie das Christentum. Vielleicht widerlegte nie-
mand die nihilistische Lebensauffassung des Pessimismus in so an-
schaulicher und unmittelbarer Weise wie Mechthild von Magdeburg,
indem sie aus der mystischen Erfahrung spricht:
/
„Ich dachte einst, wenn ich Dich sehe droben,
Will ich Dir viel von Erdenschmerz und Jammer klagen.
Nun hat mich, Herr, Dein Anblick ganz und gar geschlagen,
Denn Du hast mich hoch über mich und meine Endlichkeit erhoben“
1
.
1
Angeführt bei Gustav Naß: Das Gesetz der Superposition, in: Zeitschrift
für Religionspsychologie, Jahrgang 4, Gütersloh 1931, S. 164.