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I. Platon
Platons Gesellschaftslehre hat äußerlich die Form der Staatslehre, ist
aber nicht etwa im Sinne der heutigen akademischen Gelehrsamkeit eine
bloße Fachlehre vom Staat, sondern eine Einheit von Sitten- und
Gemeinschaftslehre, die, wie für altgriechische Verhältnisse natürlich, im
Staate gipfelt. Man darf aber die allbeherrschende Stellung des Staates bei
Platon nicht, wie es fast immer geschieht, mit heutigen Augen ansehen!
Denn Kirche und Staat waren, wie in alter Zeit überall, so auch im
griechischen Gemeinwesen eine Einheit. Die Staatsführer hatten zugleich
Priesteramt, die überstaatlichen Verbände der Poleis waren
Religionsverbände (Olympia, Delphi und andere). Trotz des Fehlens einer
Kirchenorganisation im katholischen Sinne war der altgriechische Staat
ebenso wie etwa der altgermanische eine T h e o k r a t i e .
Platons Werk darf ferner nicht, wie das die empiristisch eingestellte
Geschichtsschreibung überall versuchte, als ein von der Metaphysik
abgetrenntes Lehrstück verstanden werden, und es darf im besonderen
nicht aus der platonischen Psychologie heraus (nach der Lehre von den
drei Seelenteilen) verstanden werden, sondern es muß von der
I d e e n l e h r e h e r verstanden werden, die selbst wieder tief in der
Religion wurzelt
1
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Es ist die I d e e d e r G e r e c h t i g k e i t , die nach Platon im Staate,
der zugleich religiösen wie politischen Gemeinschaft, Wirklichkeit
annimmt. Dieser „Staat“ ist darum selbstverständlich zugleich als der
„Idealstaat“ Gegenstand der Wissenschaft. Denn wird der Staat von seiner
Idee aus betrachtet, dann ist die Erkenntnis seines reinen Wesens
notwendig zugleich die Erkenntnis, wie der Staat sein s o l l . Darüber
wundern sich unsere heutigen Naturalisten und Neukantianer, die Sein
und Sollen auseinanderreißen wollen. Sobald aber die Ideenlehre
Grundlage der Staatslehre ist, k a n n die Wissenschaft nur den S t a a t
d e r r e i n e n I d e e errichten, den „besten Staat“, und die
Unvollkommenheiten der geschichtlichen Staaten treten in den
Hintergrund.
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Besonders verweise ich auf die griechisch-deutsche Ausgabe der Staatsschriften von
Wilhelm Andreae, Teil I: Briefe, Teil 2: Staat, Teil 3: Der Staatsmann, Jena 1923, 1925 und
1926 (= Die Herdflamme, Bd 5, 6 und 13); und auf Andreaes Erläuterungsband zum Staat, 2.
Halbband: Einleitung und Erläuterungen, Jena 1925.