[59/60]
77
deren Stoff zu ihrer Darstellung „Farbenkleckse“ bilden. Das
Nib e l u n g e n l i e d (A) besteht nicht aus Buchstaben
{aßy),
sondern
aus Begebenheiten, Schicksalen, Gestalten; die Ganzheit, die Idee, das
Wesen, die Gestaltenwelt des Nibelungenliedes ist es, die sich in Worten
und Lauten (Buchstaben) darstellt, ausgliedert. /
So w e n i g w i e m a n d a s N i b e l u n g e n l i e d a l s e i n e
M i l l i o n
B u c h s t a b e n ,
d i e
i n
b e s t i m m t e r
R e i h e n f o l g e , , w i r k t e n “ , e r k l ä r e n k a n n ,
s o w e n i g m a n „ H a u s “ a l s x Z i e g e l s t e i n e , „ W a 1 d “
u n d „ B a u m s c h u l e “ a l s y B ä u m e e r k l ä r e n k a n n ,
s o w e n i g
k a n n
m a n
G e s e l l s c h a f t ,
S t a a t ,
W i r t s c h a f t d u r c h d i e A n z a h l d e r M e n s c h e n u n d
i h r e W e c h s e l w i r k u n g e n e r k l ä r e n . A ist niemals durch
αβγ
bestimmt (zusammengehäuft-summiert), sondern umgekehrt; A ist
das Primäre, Erste, Ureigene (Haus, Ziegelofen, Staat, Fabrik, Bild, Lied,
Nation), das sich in
αβγ
als in seinen Gliedern darstellt, ausgliedert,
unbeschadet einer gliedhaften Eigenlebendigkeit (vita pro- pria) der
Glieder.
Diese unsere Auffassung darf keineswegs als unerhört und neu
betrachtet werden! Sie ist uns Heutigen nur infolge unserer gänzlich
empiristisch-mechanischen Bildungsrichtung abhanden gekommen und
allzu ungewohnt. Schon Aristoteles hat das Wesen des Gesamtzustandes
klar erkannt, und jeder philosophisch höher gebildeten Zeit war die
gleiche Einsicht geläufig. Sein berühmtes Wort, daß das G a n z e
n o t w e n d i g f r ü h e r s e i a l s d e r T e i l ,
τό γάρ ολον πρότερον
άναγκαΐον είναι του μέρονς
,
erschöpft bereits den Tatbestand
1
. Freilich ist
unter dem V o r r a n g e d e s G a n z e n v o r d e m T e i l e , den
dieser Satz ausspricht, nicht ein einfaches Vorangehen in der Zeit gemeint,
sondern die l o g i s c h e Priorität. „Wenn der ganze Leib dahin ist“, heißt
es bei Aristoteles weiter, „gibt es auch nicht mehr Fuß noch Hand, außer
dem Namen nach ... Denn die begriffliche Bestimmung eines jeden
Gegenstandes liegt in seinem Werke und seinem Vermögen, dasselbe
auszurichten (das heißt also: in seinem Verhalten, seinen Eigenschaften),
so daß, wo er diese nicht mehr hat, man auch nicht
1
Aristoteles: Politik, griechisch und deutsch von Franz Susemihl, Leipzig 1879,
Erstes Buch, Kapitel 1, § 11 b. — Weiteres darüber siehe unten S. 152 ff. und unter
„Verfahrenslehre“, S. 633 ff.