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daher das Erstwesentliche. — Ist die Wirtschaft aber ein Gebäude
von „Mitteln für Ziele“, dann hat sie grundsätzlich eine durchaus
abhängige, eine durchaus dienende Stellung! Die gesamten geistigen
Inhalte des Gemeinschaftswesens, wie sie sich in Religion, Wissen-
schaft, Kunst, Staat, Sittlichkeit, aber auch in dem Inbegriffe sinn-
licher Lebensempfindungen (der Vitalität) darstellen — alle diese
Inhalte bilden in jeder geschichtlichen Kultur, z. B. der ägyptischen,
der altgriechischen oder christlichen Kultur, das Gesamtganze der
Ziele, welchem die jeweilige Wirtschaft als das Gesamtganze der
Mittel gegenübersteht. Die Wirtschaft dient daher begriffsgemäß,
mag sie auch wie heute, durch Zurücktreten der höheren geistigen
Lebensziele und durch Hervortreten der sinnlichen Genußziele prak-
tisch noch so sehr in den Vordergrund treten. Sie dient, sie ist und
bleibt abhängig. D a r a u s f o l g t d e r g r u n d s ä t z l i c h e
V o r r a n g d e s G e i s t i g e n v o r d e r W i r t s c h a f t —
im Gegensatz zum sogenannten geschichtlichen Materialismus und den
ihm verwandten Auffassungen, welche den Vorrang der Wirtschaft
vor dem Geistigen behaupten, das ihnen nur „Ideologie“ (= Re-
flex der Wirtschaft) ist. — Der grundsätzliche Vorrang des Geistigen
schließt im besonderen in sich: den Vorrang der Religion und Philo-
sophie eines Zeitalters vor seiner Wirtschaft; den Vorrang des Staates
vor der Wirtschaft; den Vorrang der Sittlichkeit und des Rechtes vor
der Wirtschaft. Nicht aus den „wirtschaftlichen Interessen“ und aus
den „Klasseninteressen“ folgt, was recht und sittlich, was wahr und
heilig sei, wie der historische Materialismus zu erklären Geschichts-
fremdheit und Vernunftscheu genug aufbringt; sondern das Recht,
die Sittlichkeit, die Wahrheit, die Religion behaupten durch alle Un-
vollkommenheiten und Einstellungen hindurch, die sich aus Mißbil-
dungen und Fehlausgliederungen / infolge menschlicher Schwächen
ergeben, den Kern ihrer Wirklichkeit. Gleichwie auch selbst der mit
Eiterbeulen bedeckte Organismus nicht durch die Eiterbeulen lebt,
das heißt nicht durch das Kranke und Tote, sondern durch das noch
Gesunde an ihm, durch das, was nicht Eiterbeule ist —, so auch die
geschichtlichen Kulturen. Es gibt wohl im staatlichen Leben vieler
Zeiten und Kulturen, besonders auch der heutigen, Überwucherung
des Werkzeuglichen und Materiellen; es gibt wohl im wirtschaft-
lichen Leben der Gegenwart eine gewaltige Ubergültigkeit und Auf-
blähung der Wirtschaft. Aber nicht diese Krankheits- und Todeser-